Der zwölfjährige Edgar aus der Bautzner Straße 28 war in großer Bedrängnis. Schon den ganzen Nachmittag eilte er von Geschäft zu Geschäft. Niemand konnte oder wollte seinen 5-Millionen-Schein wechseln. Seit Wochen kam sein Vater am Zahltag als „Millionär“ nach Hause. Und als Taschengeld für den Monat August 1923 bekam Junior eben diesen Riesenschein. Da hatte er noch Glück. Der Herr Papa war städtischer Beamter und brachte mehrere noch größere Scheine in die Haushaltskasse ein. Mutter stöhnte. Man hatte zwar „viel Geld“ in der Tasche, aber es fehlte am Kleingeld. Nicht in Form von Münzen. Die waren schon lange nichts mehr wert, sondern kleine Scheine in der Ausgabe von Hundert und Tausend oder Hunderttausend Mark. An den Banken und der Sparkasse war zu lesen: „Heute kein Geldwechsel“. Die Druckereien kamen mit dem Druck der inflationären Papierfahnen nicht mehr hinterher.1
Es geht ein Kronleuchter auf
Edgar hatte langsam die Nase voll und Not macht bekanntlich erfinderisch. Und so stürmte er kurz vor Ladenschluss in das Feinkostgeschäft vom Walter Starke auf der Bautzner 27c. Misstrauisch beäugt, bestellte er eine neue saure Gurke. Der Kaufmann reichte sie ihm in einer Tüte rüber. Und ehe der sich versah, biß der Bengel ein großes Stück ab und kaute es genüsslich. Dabei reichte er den 5-Millionen-Schein, unschuldig grinsend, über die Ladentheke. Walter Starke bekam eine Schnappatmung. Schon den ganzen Tag konnten seine Kunden kaum noch kleine Scheine beisteuern. Dabei kostete die Gurke nur 12.000 Mark. In seiner Kasse war zwar viel Geld, aber alles nur in großen, sehr großen nominellen Scheinen.1
Der Händler in der Zwickmühle
Und Edgar betonte, nur diesen einen 5-Millionen-Schein zu haben. Auf die Zwölftausend wollte der Händler weder verzichten, noch konnte er die halb aufgegessene Gurke dem Burschen wieder abnehmen. Mit dem Schein rannte er in seine Wohnung über dem Geschäft, um alles an „Kleingeld“ zusammenzukratzen, was er finden konnte. Es reichte nicht. Und so klapperte er die Nachbargeschäfte ab und borgte sich kleinere Scheine. Nach einer guten halben Stunde, die Geschäftszeit war längst vorüber, hatte er das Wechselgeld zusammen. Verschwitzt und mit hochrotem Kopf zahlte er dem Pfiffikus vier Millionen und neunhundertachtundachtzigtausend Mark aus. „Und nun mach, dass du hier rauskommst.“ Grinsend sauste Edgar aus dem Laden. Die saure Gurke war längst in seinem Verdauungstrakt angekommen.
Ein Mann vom Lande
In selbiger Zeit machte sich Bauer August Frömmler aus Moritzburg auf in die Residenz, um sich ein wenig zu vergnügen und sich vom strapaziösen Landalltag zu erholen. Er schaute auf der Hauptstraße in dieses Geschäft und in jenes, überquerte die Elbe in Richtung Altstadt und kaufte für Frau und Tochter diverse modische Accessoires auf der Prager Straße. Und da es den meisten Geschäftsleuten an besagtem Kleingeld mangelte und er sich dieser Knappheit zu Beginn der Anreise nicht bewusst war, veräußerte er seine kleinen Scheine in den Lokalitäten. Und so hatte er am Ende des Tages nur noch einen 5-Millionen-Mark-Schein in der Brieftasche.
Hungrig und durstig, wie er nun war, stürmte er vor der Heimreise in die Wirtschaft am Bahnhof Neustadt in der Hoffnung, dass ihm dort geholfen werde. Wurde ihm auch. Etliche Maß Bier und eine große Schweinshaxe (ja, das gab es auch schon zur damaligen Zeit in Dresden) linderten seine leiblichen und gute Gespräche seine seelischen Bedürfnisse. Als es ans Zahlen ging, gab er der bedienenden Kellnerin besagten letzten 5-Millionen-Schein. Die schüttelte nur den Kopf. „Kleingeld ist völlig vergriffen, mein Gutster. Haste nich was Kleineres?“ Bauer Frömmler lachte bierselig.
„Nee, woher denn. Jeder will was Kleines.“ Seine Tischnachbarn kicherten über diese Doppeldeutigkeit. „Meine Druckmaschine im heimischen Keller kommt nicht hinterher. Also mach schon, meine Kleene. Die Bude ist doch voll. Da wird doch der eine oder andere das bissel Kleingeld haben. Aber beeile dich. Mein Zug fährt bald. Sonst musste mich mit in dein Bett nehmen.“ Das trieb Wutfalten in die Stirnpartie der Kellnerin.
Die rettende Idee
Ein Wort ergab das andere und schon war ein Streit im Gange. Der Bahnhofswirt Theodor Hoppe wurde aufmerksam und versuchte den Streit zu schlichten. Doch auch der konnte nicht wechseln. Mit prüfendem Auge überflog er die Garderobe des Bauern aus Moritzburg. Am Kleiderständer sah er einen Spazierstock mit silbernem Knauf. „Hunderttausend Mark ist dieses Möbelstück wohl wert“, meinte er und machte den Vorschlag, selbigen für die Zeche des August Frömmler als Pfand in Gewahrsam zu nehmen. Der Bauer war schließlich kein Unmensch und hatte ein Einsehen mit dem Wirt und unterschrieb einen Pfandschein für das Verzehrte. Und so blieb der 5-Millionen-Mark-Schein in des Frömmlers Tasche. Seinen Gehstock würde er demnächst einlösen. Irgendwann demnächst.
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Nachrichten vom 12. August 1923
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.