Man hats nicht leicht mit seinen Abgeordneten. Aber die haben es auch nicht leicht mit uns, den Wählern, die allgemein euphemistisch Souverän genannt werden, es im Einzelnen aber selten sind. Nichts und niemand ist halt vollkommen.
Darüber debattiert man heute hin und wieder an Stammtischen in den Neustadtkneipen und im Familienkreis, in Talkshows, in politischen Gegnerschaften, unter Parteifreunden und Intimfeinden. Darüber debattierte man während und nach Revolutionen und Kriegen, aber auch schon, als der demokratische Rechtsstaat noch ein hehres Ziel war. So auch im Jahre 1840 hier in der Königlich-sächsischen Residenz.
Wie sollte er nun sein, diese neu erfundene Spezies?
Er sei das Ideal menschlicher Würde.1 Welch kraftvoller Satz. Und weil dem so sei, so die damaligen Verfechter einer an den Horizont der Geschichte gemalten fantastischen Zukunft, deren erster Akt acht Jahre später in der Pauskirche zu Frankfurt am Main mit der gewählten Nationalversammlung eingeläutet wurde, sollte zuerst jeder Volksvertreter frei sein von aller Leidenschaftlichkeit.
Nicht vehement streiten, andere beleidigen und gerichtlich verfolgen, nicht Wasser predigen und selber Wein saufen, nicht den Gegner diffamieren und selber die Hand aufhalten. Kurzum, er, der Volksvertreter, könne es nur erreichen, so die Verfasser dieser idealen Anforderungen, sobald er stets daran denkt, dass er nicht für sich, sondern für die Tausende spricht, die ihr volles Vertrauen in ihn gesetzt haben.
Wer jetzt meint, in diesen Ansichten sei die eine Hälfte der Dresdner Bevölkerung nicht erwähnt, hat recht. Denn diese, die weibliche Hälfte, konnten 1840 weder wählen noch gewählt werden und kam in den Debatten nicht vor. Und auch die Männer durften erst mit einem gewissen jährlichen Einkommensnachweis an die Wahlurne. Auch unter ihnen war der größere Teil ausgeschlossen.2
In diesem Vertrauen soll nach den Verfassern der Anforderungen eben diese Würde des Volksvertreters liegen. Und wenn diesem Vertreter diese Würde in ihrem ganzen Umfange bewusst sei, werden ihm auch Gerechtigkeit und Furchtlosigkeit beiseite stehen.1
Welche Eigenschaften sollte er noch besitzen?
- Genaue Kenntnis des Landes und seiner Bedürfnisse
- Gründliche Auffassung aller Zeitverhältnisse
- Eine wissenschaftliche Bildung, ohne welcher kein Mann zu einer durchgreifenden Wirksamkeit gelangen kann, ohne welche er sich weder die Achtung der Zeitgenossen erwerben noch der Verehrung der Nachwelt gewiss sein kann.
Er soll sein ein Ritter ohne Furcht und Tadel, ausgerüstet mit der Gabe der Rede. Sie allein soll seine einzige Waffe sein, eine Waffe, die tiefer eindringt als ein zweischneidiges Schwert, eine Waffe, die nicht den Körper, sondern den Geist besiegt und die ihren höchsten Triumph feiert, wenn die Besiegten ausrufen „Wir sind überzeugt“.1
Wo ist er, dieser ideale Volksvertreter?
Ich würde ihn sofort wählen. Ruft keiner hier? Tiefes Schweigen, Dunkelheit. Nun, das wussten schon die Verfasser des besagten Artikels im Jahre 1840, indem sie in die Überschrift setzten: „Fromme Wünsche“.1
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Wochenblatt für vaterländische Interessen vom 11. Januar 1840
2 Nach der Julirevolution 1830 wurde ein Jahr später die erste sächsische Verfassung erarbeitet und am 4. September 1831 verkündet. Nach dieser bestand der Landtag bis 1918 aus zwei Kammern, deren Präsidenten vom König ernannt wurden. Mindestens alle drei Jahre sollte er einberufen werden. In der ersten Kammer waren die vom König ernannten Vertreter des Adels, des Klerus, Rittergutsbesitzer, die Oberbürgermeister von Dresden und Leipzig und sechs weiterer Städte. In der zweiten Kammer waren 20 Abgeordnete der Rittergüter, 25 der Städte und 25 der Bauern sowie fünf Vertreter des Handels und der Fabrikbesitzer. In der Revolution von 1848 wurden Veränderungen zugunsten des dritten Standes zugesagt, aber nicht eingehalten. Immer wieder gab es Veränderungen in der zweiten Kammer, die sich den veränderten Machtverhältnissen anpassen mussten. Von 1831 bis 1907 tagte der Landtag im Ständehaus an der Landhausstraße, heute Stadtmuseum Dresden.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.