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Sonntagsschreck an der Ecke

Noch einmal auf die andere Seite drehen, sagte sich Schneiderin Emilie Angermann und kuschelte sich seufzend in das Kissen ein. Es war Sonntag früh gegen 7 Uhr und durch das offene Fenster hörte man nur die Vögel zwitschern. Ihr Mann neben ihr schnarchte leicht vor sich hin. Von draußen drang die frische Morgenluft dieses wunderschönen Altweibersommertages des Jahres 1907 herein. Das sonst geschäftige Treiben an der Kreuzung Louisenstraße/Görlitzer Straße und Markgrafenstraße1 war zur Ruhe gekommen.

Straßenleben im Arbeiterviertel Äußere Neustadt, hier festgehalten die Ecke Louisen-/Görlitzer Straße auf einer Postkarte von 1910.
Straßenleben im Arbeiterviertel Äußere Neustadt, hier festgehalten die Ecke Louisen-/Görlitzer Straße auf einer Postkarte von 1910.

Das Quietschen der Straßenbahn bei der Durchfahrt durch die versetzten Straßen nahm sie sowieso nicht mehr war. Und auch der Lärm der sonst zu den Schulen auf der Louise und in der Görlitzer eilenden oder bummelnden, aber kakophonisch quatschenden Kinder, er war einer entspannenden Stille gewichen. „Ach könnte es doch immer so sein“, sagte sich Emilie und begab sich zum Fenster, um die Straße und die Kreuzung links von ihr in Augenschein zu nehmen. Mit geschlossenen Augen sog sie die frische Luft tief in sich hinein.

Auf Sonntagsruhe folgte Sonntagsschreck

Nach links blickte sie zur Kreuzung und hörte das Getrappel eines Pferdes, die Louise aus dem Prießnitzgrund hochkommend. Der Gaul zog schwer an einem Wagen, der beladen war mit Milchkannen sowie mit Kästen, die Butter, Quark, Käse und dergleichen enthielten. Die aufgehende Sonne beschien die Kreuzung und tauchte sie wie ein Gemälde in ein warmes Gelb. Dieses Bild rief bei Emilie romantische Gefühle hervor. Als sie sich umdrehen wollte, um sich an ihren Mann zu kuscheln, bemerkte sie aus dem Augenwinkel heraus etwas merkwürdiges, dass sie von ihrem Vorhaben abbrachte.

Irgendetwas stimmte nicht mit dem Gaul. Je näher dieser der Verkaufsfiliale vom Pfunds Molkerei auf der Görlitzer Straße 1 kam, umso schneller lief das Vieh. Das Pferd trieb den Wagen und der Wagen wiederum das Pferd. Der Kutscher hatte die Lage nicht mehr in Griff. Auch lautes „Brrr“ und Zerren am Zügel half nichts. Da sprang der Gaul auf den Fußweg an der Haltestelle der Straßenbahn. „Oh nein“, schrie Emilie. Das Pferd sauste doch dann tatsächlich durch die Glastür des Eckladens2, als wollte es in das Geschäft, um sich als Erster eine morgendliche Portion frischer Milch zu holen. Dabei riss es den Wagen herum, so dass einige Milchkannen scheppernd auf die Straße flogen. Zum Glück kam keine Straßenbahn.

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Das zwangsweise Ende der Nacht

Der große Lärm wurde zum unbestellten Wecker für die Menschen in den Häusern in der Umgebung der Kreuzung. Im Haus gegenüber riss ihre berufliche Konkurrentin, die dralle Frau Schneidermeisterin Kießling energisch das Fenster auf und brüllte mit wutverzerrtem, puterrotem Gesicht was von Ruhe und Sonntagsfrieden. Dabei rutschte ihr der riesige Busen aus dem rosa Nachthemd.

Der über Emilie in der Görlitzer Nr. 2 wohnende Schneidermeister Wilhelm Koban lachte beim Anblick der drallen Nacktheit laut auf, was die barbusige Schneiderin von gegenüber zu einer Drohgebärde und wüsten Schimpfereien gegen Konan verleitete. Er möge nicht so glotzen und sie könne wenigsten was vorzeigen, während er seine Gattin als Kleiderständer nutzen könne, so dürre sei sie. Dann wurden beider Fenster mit lautem Knall geschlossen, dass beinahe auch deren Scheiben zu Bruch gegangen wären.

Die Postkarte von 1942 zeigt die Görlitzer Straße, linker Hand, wo sich heute die Studio-Bar befindet, hatte Pfunds Molkerei zu der Zeit des hier beschriebenen Ereignisses seinen ersten Milchladen.
Die Postkarte von 1942 zeigt die Görlitzer Straße, linker Hand, wo sich heute die Studio-Bar befindet, hatte Pfunds Molkerei zu der Zeit des hier beschriebenen Ereignisses seinen ersten Milchladen.

Das arme Pferd interessierte keinen

Über der Kneipe „Zum Markgrafen“ an der Ecke Markgrafen- zur Louisenstraße öffnete sich das Fenster im ersten Stock, wo sich Herr und Frau Scholz mit Kissen auf der Fensterbank postierten, um dem Treiben in und um Pfunds Milchladen zuzusehen. Dabei hielt jeder einen Topp Kaffee in den Händen.

Im zweiten Stock lehnte sich der junge Postassistent Josef Beuth mit freiem Oberkörper aus seiner Mietstube, die er mit einem Mitbewohner teilte. Dabei wurde er von der jungen Kellnerin Emmy Schäfer aus dem Haus gegenüber ob seines wohlgeformten Körpers lüstern gemustert. Diese rekelte sich lasziv am offenen Fenster. Josef grinste, denn er wusste, dass die Emmy unten im „Markgrafen“ kellnerte. Vielleicht wäre da mehr als nur ein Blick aus der Ferne drin.

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Er sah aber nicht den Musiker Paul Geier aus dem vierten Stock über ihm, der der Emmy eindeutige Avancen und Gesten der unschicklichen Art machte, die die Kellnerin zum Grinsen brachten. Das bezog Josef wiederum auf sich und fühlte sich in seinem Begehren gestärkt.

Inzwischen war die ganze Umgebung wach. Die Leute an den Fenstern diskutierte über das Pferd, das halb im Milchladen stand und darüber, wie es dahin gekommen sein könnte. Natürlich hatte jeder etwas anderes gesehen oder gehört oder von anderen gehört, die wieder etwas von Leuten gehört hatten, die was beisteuerten, was andere mutmaßlich gesehen haben wollten. Nur die Schneiderin Emilie aus der Görlitzer 2 wusste als einzige, was wirklich passiert war. Sie hatte aber keine Lust, sich an dem aufgeregten Getratsche zu beteiligen.

Der Anblick der Leute

Emilie amüsierte sich derweil über die unterschiedlichen Nachtbekleidungen der Nachbarn. Die Frau des Bäckermeisters aus der Markgrafenstraße 43 beugte sich mit einem geblümten, fast durchsichtigem Nachthemd aus dem Eckfenster. Darüber trug sie einen offenen roten Morgenrock, Das Haar war in unzähligen Lockenwicklern versteckt. Die Häsin aus der Görlitzer 1, gegenüber, hatte so ein graues steifes Etwas an, dass ihre verhärmte Gestalt noch betonte.

Aus der vierten Etage blickten die frisch verheiraten Herr und Madame Fiedler interessiert nach unten. Und obenrum hatten sie nichts an. Untenrum höchstwahrscheinlich auch nicht. Schamloses Proletenpack, sagte sich die Angermann und schüttelte ihren Kopf. Andererseits konnte sie die jungen Leute auch verstehen. Solange der Ofen heiß ist, sollte darauf auch gekocht werden, sagte schon ihre Mutter.

Dresdner Neueste Nachrichten vom 7. Mai 1907
Die Dresdner Neueste Nachrichten berichteten über den Vorfall

Die Rettung des Pferdes

Die Scheibe der Eingangstür in den Eckladen der Pfundsmolkerei war komplett zerstört, aber der Gaul hatte wie durch ein Wunder nicht einen Kratzer. Kein Blut floss. Auch die vom Wagen heruntergefallenen Milchkannen waren so gut verschlossen, dass sie nicht aufsprangen. Nur ein paar Beulen hatten sie. Für einige aus den Häusern war das eindeutig das Wirken der Vorsehung oder der Gottesmutter Maria oder eines der zahlreichen Schutzengel. Wobei man gern gewusst hätte, welchen Schutzengel Pferde hätten. Andere freuten sich nur ob der Rettung oder interessierten sich nicht dafür. Nur die Sozis hatten ein Problem. Sie fanden kein passendes Zitat von Marx oder Kautsky.

Emilie Angermann ging zurück ins Bett zu ihrem Mann. Der hatte von dem ganzen Krach auf der Straße nichts mitbekommen und schnarchte selig in Morpheus Armen. Dabei ließ er einen kräftigen Boller gegen die Bettdecke fahren und drehte sich zufrieden grunzend um. Nun war an Schlafen oder gar an romantische Begehren nicht mehr zu denken. Fluchtartig verließ sie das Schlafzimmer und ging in die Küche, um sich für den Sonntagsausflug zurecht zu machen. Dann war das Frühstück dran. Es wird ein schöner Sonntag werden, sagte sie sich überzeugt.

Anmerkungen des Autors

1 Die Markgrafenstraße heißt seit 1946 Rothenburger Straße und die besagte Kreuzung ist heute ein beliebter Treffpunkt für viele Jugendliche, oft bis zum frühen Morgen, teils zum Ärger der Anwohner.
2 siehe Dresdner Neueste Nachrichten vom 7.5.1907, Seite 3 unter der Überschrift „Das Pferd im Milchladen“ Ich habe die reale Story in den September 1907 verlegt. Die „Nachtwäscheschau“ an den Fenstern war für meine Fantasie natürlich ein gefundenes Fressen. Die Zeitung schrieb darüber nur verbrämt: „Deren Anblick an den Fenstern soll in Anbetracht der primitiven Kleidung höchst originell gewesen sein.“


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.

Ein Kommentar

  1. Sehr schöner Text, danke.

    und hier musste ich an die Gegenwart denken – soziale Netzwerke. Damals halt noch die Nachbarschaft, heute virtuell, aber geändert hat sich nix (wie auch, die Menschen sind prinzipiell die selben geblieben):

    „Natürlich hatte jeder etwas anderes gesehen oder gehört oder von anderen gehört, die wieder etwas von Leuten gehört hatten, die was beisteuerten, was andere mutmaßlich gesehen haben wollten.“

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