Polizeihauptwachmeister Stielke drückte sein Ohr an die Eingangstür des Restaurants „Neustädter Konzert- und Speisehaus“ auf der Alaunstraße 35, nahe der Ecke zur Katharinenstraße. Von drinnen klang Gelächter und Gegröle heraus. Ein Blick auf seine Taschenuhr zeigte ihm an, dass die Polizeistunde längst angebrochen war. Der seit dem 27. September geltende Ausnahmezustand machte die frühe Schließung notwendig.
Stielke drückte die Klinke. Sie war verschlossen. Seine zwei Wachtmeister schickte er über die Katharinenstraße zum Hintereingang. Dann donnerte er gegen die Eingangstür. Erst nach mehrmaligem Rufen öffnete der Wirt die Tür. Im Inneren saßen fünf Leute am Stammtisch. Nun herrschte angespannte Stille.
„Es ist eigentlich seit 10 Uhr abends Feierabend, Zapfenstreich, Polizeistunde, Ende, aus. Und jetzt ist Mitternacht längst vorbei. Alles nach den Regelungen des Ausnahmezustandes, der seit gestern in ganz Sachsen herrscht.“
Als drei der Anwesenden sich anschickten, durch den Hinterausgang das Weite zu suchen, traten die beiden Wachtmeister durch selbigen und versperrten den Fliehenden den Weg. Stielke grinste.
Seit dem 23. September 1923 brodelte es in der ganzen Stadt. Das einfache Brot zu 1.900 Gramm kostete mittlerweile zwei Millionen Mark. Die Versorgungslage verschlechterte sich zusehends. Dresden hatte mehr als 30.000 Erwerbslose.
Demonstrationen und Barrikaden in der ganzen Stadt
Die meist jungen Arbeitslosen demonstrierten sternförmig von überall her in die Altstadt. Dort setzten sie die Schließung der Markthallen, Kaufhäuser und Geschäfte durch, bauten Barrikaden aus umgestürzten Lastwagen. Anrückende Polizeieinheiten wurden mit Knüppeln traktiert und mit Steinen beworfen. Straßenbahnen hinderte man an der Weiterfahrt. Es gab regelrechte Schlachten, wie am Postplatz und am Sternplatz.
Auch fielen immer wieder Schüsse aus den Reihen der Demonstranten. Einer traf den Arbeitslosen Kennecke tödlich, der gerade von einem Polizisten verhaftet werden sollte1. Der Aufruhr eskalierte. Die jugendlichen Revoluzzer wollten das Polizeirevier stürmen, in das der tote Kennecke gebracht wurde. Konnten aber zurückgeschlagen werden.
Auch in den folgenden Tagen setzten die revolutionären und radikalen Arbeiter ihre Aktionen fort. Die blaue und die grüne Polizei schlugen mit Gummiknüppeln zurück. Als Demonstranten einzelne Polizisten erwischten, verprügelten sie diese. Selbst die Sanitäter der Arbeiter-Samariter wurden bei ihren Rettungsleistungen behindert.
Und politisch gab es im Hintergrund Kontakte für eine Zusammenarbeit zwischen der Landes-SPD und der KPD. Die sich ausbreitende Inflation, Hunger, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und Zukunftsängste wirkten als Katalysatoren. Und da flog der Stöpsel aus der Flasche. Der Deutsche Oktober2 1923 leuchtete am Hintergrund.
Auch in anderen sächsischen Städten rumorte es. In Freiberg konnte man der Demonstrationen nur mit dem Einmarsch der Reichswehr Herr werden. Schwere Zusammenstöße gab es u.a. in Annaberg, Bautzen und Zittau.
Ausnahmezustand
In Dresden sicherte der Befehlshaber des Wehrkreises IV, Generalleutnant Müller, die Aufrechterhaltung der Ordnung. Im Gebiet der Neustadt wurden Bannmeilen um die gesamte Albertstadt und um den Bereich des Blockhauses und des Neustädter Marktes angeordnet. Nach der reichsweiten Ausrufung des Ausnahmezustandes am 27. September 1923 durch eine Verordnung des Reichspräsidenten, des Sozialdemokraten Friedrich Ebert, zog langsam wieder Ruhe ein.
Strafen für die Nachtschwärmer
Die im Konzert- und Speisehaus auf der Alaunstraße erwischten Freunde der Geselligkeit schauten bedeppert drein. Sie waren kleine Handwerker aus der Nachbarschaft und hatten selbst an keiner Demonstration teilgenommen. Der Freitagabend war ihr Stammtisch. Und bei dem einen und anderen Bier wurde die Sperrstunde des Ausnahmezustandes total vergessen.
Hauptwachmeister Stielke kannte sie alle. Aber Strafe musste sein. Ohne Maßregelungen könnte er sich bei seinem Vorgesetzten nicht sehen lassen. Und da fiel ihm eine Notiz aus der Zeitung ein, die er vor Tagen gelesen hatte. Da ging es darum, dass die galoppierende Inflation jede Geldstrafe binnen kurzem ins Nichts auflöste. Er verdonnerte deshalb jeden einzelnen, einschließlich dem Wirt, wegen Nichteinhaltung der Sperrstunde zu einer Strafe im Wert eines Glases Vollbier, einschließlich Bedienungsgeld. Ein hörbar erleichtertes Aufatmen durchströmte die Gaststube. Es traf ja nicht die ganz Armen.
Anmerkungen des Autors
1 Siehe Weißeritz-Zeitung vom 25. September 1923, Seite 1.
2 Deutscher Oktober, siehe Wikipedia. Künftig mehr dazu.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.
Früher war alles besser … so friedlich! Hahahaha…