„Platz da, ihr verlotterten Rotzbengel“, schrie mit finsterem Blick Kaufmann Friedrich Schleinitz auf der Hospitalstraße, seine Gattin Gerlinde hinter sich herziehend, eine Horde junger Männer an, die aus der Königlich-Sächsischen Bauschule kam und schwatzend in Richtung Albertplatz zog. Dabei hob er drohend seinen Gehstock.
Das ließen sich die Jungs nicht gefallen, zumal sie sich in der Überzahl wähnten und körperlich recht kraftvoll wirkten. Der, den sie Keule nannten, postierte sich vor Schleinitz, den er um Kopfesgröße überragte und ergriff den Stock. „Was willst’n, Opa?“
Gerlinde Schleinitz wurde blass. Dieses herrische Verhalten ihres Mannes hatte sie schon des Öfteren in die Bredouille gebracht. „Lass gut sein, Friedrich“, wirkte sie beruhigend auf ihn ein. Und zu den Jungs gewandt, lächelte sie entschuldigend. „Ach ihr jungen Herren. Nehmt es meinem Mann nicht übel. Er erregt sich schnell und ist dann aber wieder friedlich, der Friedrich.“
Friedrich grummelte etwas Unverständliches in seinen Bart und die Jungs setzten ihren Weg schwatzend in Richtung Albertplatz fort.
Vor Gericht
Nun hatten die Schleinitz‘ ihr Ziel, das Königliche Amtsgericht auf der Hospitalstraße 7, erreicht. Beim Portier zeigten sie die Gerichtsvorladung für den 28. September 19121 vor und begaben sich über die breite Treppe nach oben in den Gerichtssaal 3. Der dunkel getäfelte Raum wirkte auf Gerlinde drückend und bedrohlich. Soll es wohl auch, sagte sie sich. Friedrich Schleinitz fühlte sich aber hier wohl. Er hatte schon die halbe Königsbrücker Straße verklagt, wie er stolz vermerkte.
Ein Gerichtsdiener nahm sie in Empfang und geleitete sie zur Bank der Kläger, wo sie Staatsanwaltsassesor Dr. Palitzsch begrüßte. Gattin Gerlinde begab sich zunächst als Zeugin in den Flur vor dem Gerichtssaal.
Die Beklagtenbank war noch leer. Kurz bevor die Verhandlung begann, kam die Beklagte Isolde Klotz, die im Hinterhaus ihres Grundstückes wohnte, mit ihrem Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Georg Kaiser. Mit eine ängstlichem Blick nach unten nahm sie Platz.
Auf der Zuschauertribüne saßen einige Bewohner der Königsbrücker 40 und aus der Nachbarschaft. Niemand wollte den Spaß dieses Nachbarschaftsstreites verpassen.
Der Ausgangspunkt
Der Geheime Gerichtsrat Dr. Schlemmer saß dem Geschworenengericht vor und wechselte kopfschüttelnd den Blick von der Anklage zur Beklagten und zurück. Solche Fälle mochte er gar nicht. Sie waren zwar für Besucher das Salz in der Suppe der Juristerei und die Zuschauer liebten derlei Verhandlungen. Da war was los, meinten sie, da gab es Klatsch und Tratsch. Das war unterhaltsamer als jede Komödie im nahen Alberttheater.
Zunächst schilderte Staatsanwaltsassessor Dr. Palitzsch die Vorgeschichte dieses inzwischen langwierigen, sich in der dritten Phase befindlichen Prozesses. Fast ein Jahr zuvor erhielt die Gattin des Klägers, Gerlinde Schleinitz, geborene Fiedler, ein ominöses Päckchen mit anonymer Herkunft. Zunächst wollte sie es nicht annehmen, aber die Neugier obsiegte. Und was war drin? Das Delikt dieses Prozesses: Neben einer Sebnitzer Kunstblume namens „Klatschmohn“ lagen einige auf Pappe aufgeklebte Witzbilder mit anzüglichem Inhalt.
Diese Bilder zeigte der Staatsanwalt den Geschworenen. Darauf waren vor allem Weibsbilder mit großem, die Kleidung verlassen wollendem Busen, mit lüsternen Blicken und Texten darunter, die eindeutig den guten Anstand vermissen ließen. Einige Geschworene drehten ihre Gesichter zur Seite, andere richteten ihr Monokel so, dass sie alles genau betrachten konnten und wieder andere schüttelten mit einem Anflug der Entrüstung ihre Köpfe.
Die inzwischen als Zeugin hereingeholte Schleinitz antwortete auf die Frage des Staatsanwaltes nach ihrem Empfinden, als sie das Paket öffnete, dass sie vor Scham in den Boden hätte versinken wollen. Als der Gerichtsrat sie fragte, ob sie denn ahnen könne, wer ihr dieses obszöne Paket hätte geschickt haben könnte, erwiderte sie: „Ja, das kann nur von dem meineidigen Miststück, der Klotzen, die da drüben sitzt, kommen.“
Die so bezichtigte begann laut zu schluchzen und wurde dann wütend. „Das ist eine infame Lüge.“ Und dann zeigte sie mit ihrem rechten Zeigefinger auf die Schleinitz.
„Die da drüben ist eine Tratsche vor dem Herrn. Das wissen alle im Haus. Die wird sich wohl das Paket selber geschickt haben. Nur um mich zu ärgern, weil sie mich nicht leiden kann. Oder, Herr Geheimer Rat vom Gericht?“ Dabei hob sie den Kopf, zog eine Augenbraue hoch, setzte sich und quetschte zwei Tränen aus dem linken Auge. „Sie sind eine infame Lügnerin, damals und auch heute“, warf die Schleinitz ein.
Gerichtsrat Dr. Schlemmer pochte mehrfach mit dem Hammer aufs Pult. „Sie haben beide nur zu antworten, wenn sie gefragt werden. Und vor allem keine gegenseitigen Beleidigungen. Noch einmal ein solches Benehmen und Sie beide bekommen ein saftiges Ordnungsgeld. Die Herren Staatsanwalt und Rechtsanwalt ermahne ich, dass sie ihre Mandantinnen zu Respekt vor dem Hohen Schöffengericht mahnen.“
Und Dr. Schlemmer führte aus, dass das damalige Verfahren die Unschuld der Frau Klotz feststellte, welche diese auch noch beeidete. Auch eine Schreibsachverständige konnte nur feststellen, dass es nicht die Klotz und auch nicht die Schleinitz war, die die Adresse schrieben.
Der Kläger, der Herr Kaufmann Friedrich Schleinitz, legte zunächst Berufung gegen den Freispruch ein, zog diese aber wieder zurück. Andererseits verklagte er dann die Isolde Klotz wegen Meineids.
Im Vorfeld dieser Verhandlung ließ die Staatsanwaltschaft die Bilder genauer untersuchen und stellte überraschend fest, dass auf der Rückseite eines der aufgeklebten Bilder der Name ‚Wella Klotz‘, einer Tochter der Klotzens, auftauchte. Daraus folgerte die Anklage, dass die Isolde Klotz mutmaßlich von dem Paket gewusst haben musste. Auch hätte sie bei der Verhandlung vor fast einem Jahr von ihren Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen können.
„Ich habe kein Paket an diese Dame aus der zweiten Etage des Vorderhauses geschickt. Das habe ich damals geschworen, das schwöre ich auch heute noch, meine Herren Geschworenen“, rief sie laut in Richtung Gericht.
Dr. Schlemmer hob drohend den rechten Zeigefinger. „Noch ein Wort und ich verfüge einen Tag Arrest gegen Sie.“ Das wirkte. Isolde Klotz lehnte sich zurück und schmollte. Die Ermahnungen ihres Anwalts Dr. Kaiser wedelte sie wie eine Schar lästiger Fliegen beiseite.
Das Gericht konnte jedoch keinen Meineid der Isolde Klotz feststellen und sprach sie endgültig der Täterschaft der Absendung des ominösen Päckchens an Gerlinde Schleinitz frei.
Der Gerichtsrat schloss die Verhandlung, machte beim Hinausgehen drei Kreuze und eilte zur Entspannung in sein Stammlokal in der Königstraße. Isolde Klotz ging hocherhobenen Hauptes an die Schleinitz vorbei und steckte ihr die Zunge raus, was ihren Mann Friedrich zu der Äußerung veranlasste, nun die Klotz wegen Beleidigung zu verklagen. So endete dieser Tag doch noch für die beiden zur vollsten Zufriedenheit.
Anmerkungen des Autors
1 Siehe Dresdner Nachrichten vom 1. Oktober 1912
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.
:D
perfekt zur mittagspause!