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Der Deutsche Rote Oktober in Dresden (Teil 3)

In höchster Erregung stürmte Paul Schrader am Abend des 21. Oktober 1923 in das Hinterzimmer der Kneipe „Zum Rosental“ auf der Hechtstraße 55, dem Treffpunkt der Kommunisten im Hechtviertel. Seine Genossen waren schon da. „Nun machen die Militaristen ernst.“ Setzte sich an den Tisch und verlangte nach einem Bier, dass er in einem Zug austrank.

Bischofsplatz um 1910, zeitgenössische Postkarte
Bischofsplatz um 1910, zeitgenössische Postkarte

„Genossen, was dieser General Müller vom Wehrkreiskommando IV und die rechte Propaganda raushauen, ist nichts als Lüge und Dreck. So soll es hier in Sachsen drunter und drüber gehen, das Chaos soll regieren und wir seien auf dem Weg in Verhältnisse wie in Russland.“1 Die anderen schütteln nur den Kopf.

„Man könnte meinen, die reden von einem anderen Land, aber nicht von unserem Sachsen“, meinte der arbeitslose Gustav Nolle. „Naja“, meinte Horst Müller nachdenklich, „so ganz ohne ist das auch nicht. Hier und da geht’s schon chaotisch zu.“ Das ließ Paul Schrader als Leiter der proletarischen Hundertschaft hier im Viertel nicht gelten. Unsere proletarische Regierung tut alles, um die Situation der Arbeiter zu verbessern. Nur die Kapitalisten und ihre Helfer aus den Banken, bei der rechten Presse und die Geldgeber aus dem Ausland torpedieren den Ministerpräsidenten Erich Zeigner und unsere Minister Fritz Heckert, Georg Böttcher und unseren Parteivorsitzenden Heinrich Brandler.“

Dresdner Volkszeitung - das Organ der Vereinigten Sozialdemokratie
Dresdner Volkszeitung – das Organ der Vereinigten Sozialdemokratie

Schlossergehilfe Ernst Zickler warf seine Meinung ruhig und mit lautem Bass in die Runde. „Selbst im ‚Vorwärts‘ der Sozialdemokraten wird geschrieben, dass die Mehrheit der Deutschen gegen eine weitere Aufrechterhaltung des nunmehr gut drei Wochen bestehenden Ausnahmezustandes sei. Aber der Reichswehrminister und die Regierung des Reichskanzlers Stresemann wollen nur die Linken beschneiden, die Rechten in Bayern nicht.“2

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Proletarische Hundertschaften

„Ja und unsere proletarischen Hundertschaften und die Aktionsausschüsse bleiben weiter verboten“, rief jemand von den hinteren Plätzen. „Gegen diese konterrevolutionären Lumpen müssen wir uns wehren. So wie es uns unsere Brüder in Sowjetrussland vorgemacht haben. Ich schlage vor, dass wir unsere versteckten Waffen hervorholen und mit den Hundertschaften die Reichswehr oben in der Albertstadt aus dem Land jagen.“ Lautes Grölen, das bis auf die Straße zu hören war, durchzog mit dem Schlagen der Biergläser auf den Tischen den Raum.

Das ging Paul Schrader zu weit. „Stopp Genossen. Mal ganz ruhig und Kopf einschalten. Unsere Parteiführung hatte beschlossen und darin sind wir uns mit der SPD einig, dass die Proletarischen Hundertschaften nur der Selbstverteidigung und der Abwehr der faschistischen Geheimorganisationen dienen. Aber nicht dem Kampf gegen die Reichswehr. Also Ruhe bewahren, Genossen. Alles zu seiner Zeit. Und ich erinnere an die Versammlung vor zwei Tagen im ‚Orpheum‘ auf der Kamenzer Straße, als wir alle gemeinsam die volle Unterstützung unserer proletarischen Einheitsregierung in Sachsen beschlossen hatten.“2

Dresdner Nachrichten vom Oktober 1923
Dresdner Nachrichten vom Oktober 1923

In dem Moment wurde die Tür aufgerissen und herein platzten die Ehefrauen von Schrader, Zickler, Nolle und Müller, gefolgt von Else Krupka, der Kellnerin des „Rosental“. Mit wütend funkelnden Augen und auf die Hüften platzierten Fäusten blickte sie in die Runde. „Seid ihr denn dämlich geworden?“, rief Lisa Nolle. „Ihr redet von Revolution und faselt von einem Sowjetsachsen. Aber wie wir in diesen Zeiten unsere Kinder satt kriegen, Miete und Strom bezahlen, Kohlen und Kartoffeln einbunkern sollen, darüber macht ihr euch keine Gedanken. Vor einer Stunde wurde auf dem Bischofsweg ein Brotwagen geplündert, der für unseren Konsum bestimmt war. Aber das ist euch egal. Hauptsache große Reden schwingen.“3

Stille im Raum.

Paul Schrader, dem es unangenehm war, unter diesen Furien seine Frau zu entdecken, hob beschwichtigend seine Hände. „Meine liebe Genossin Lisa Nolle…“, weiter kam er nicht. „Ich bin nicht deine liebe Genossin, weil ich nicht in deinem Verein bin. Es reicht, wenn mein Mann sich mit dem Klassenfeind prügelt. Arbeitslos ist er und wie ich unsere drei Knirpse durch den Tag bringen soll, fragt er nicht.“ Gustav Nolle hat sich auf seinem Stuhl klein gemacht. Er hatte seiner Frau nicht erzählt, dass er gestern an einer Erwerbslosen-Demonstration in der Innenstadt teilgenommen hatte. Dabei war es zu einer Auseinandersetzung mit der Polizei gekommen. Geschäfte wurden geplündert. Steine flogen seitens der Demonstranten und Gummiknüppel und Verhaftungen waren die Antwort.2 Gustav Nölle konnte rechtzeitig entwischen.

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Paul Schrader versuchte noch einmal beruhigend einzugreifen. „Genossen, und auch ihr Frauen seid gemeint, ich bitte um Ruhe. Unser Wirtschaftsminister Fritz Heckert hat im Landtag den Reaktionären von der Deutschnationalen Partei zugerufen, dass unsere Verfassung das Recht auf eine Revolution nicht aus- sondern einschließt. Auch wenn die Rechten spalterisch meinten, dass sich die SPD damit selbst entmanne und vor dem Kommunismus kapituliere.4 Aber Genossen, das ist keine Kapitulation, sondern Einsicht in die Notwendigkeit. Und dazu gratulieren wir unseren Brüdern.“

Tosender Beifall.

„Und wir sind auch gegen die Wiedereinführung des 10-Stunden-Tages“,5 fuhr Schrader fort. Doch Lisa Nolle gab nicht auf. „Für den Achtstundentag kämpfen mit der Gewerkschaft. Das finde ich in Ordnung. Aber da braucht es auch die Arbeitsplätze dazu. Seit ihr Kommunisten an der Macht seid, ist alles nur noch schlechter geworden. Mit eurem Wirtschaftsminister funktioniert die Wirtschaft nicht. Inzwischen gibt es in Dresden mehr als 40.000 Arbeitslose. Das bisschen Geld wird schnell von der Inflation aufgefressen. Opfer werden gefordert. Opfer von uns kleinen Leuten. Wo sind denn die Opfer der Reichen? Wo?“ Lisa hatte sich in Rage geredet und keiner widersprach.

„Gerda, sag doch auch mal was“, rief Lisa in die Frauengruppe hinter sich. „Ää, ja… Also… Ich meine…“, stotterte Gerda Müller verlegen. Für große Reden war sie nicht geboren. Frieda Schrader hatte sich bis jetzt aus Rücksicht auf ihren Mann zurückgehalten. Doch nun griff sie in die Diskussion ein. „Ab Sonntag soll eine einfache Straßenbahnfahrt 200 Millionen Mark kosten. Seit gestern kostet das Bier im Glas hier im ‚Rosental‘ 217 Millionen.6 Und ihr sauft es literweise. Uns fehlt das Geld in der Haushaltskasse. Ihr fordert immer von anderen Opfer. Aber wo bleiben eure Familien? Wir müssen darben. Es reicht uns mit eurem Revolutionsgefasel.“

Die Frauendelegation machte kehrt und die Männer zahlten und verließen zum großen Teil das Lokal. Um des lieben Friedens willen.

Teil 3 der Serie. Fortsetzung folgt. Hier geht es zu Teil 1 und Teil 2.

Anmerkungen des Autors

1 Siehe Dresdner Volkszeitung vom 18. Oktober 1923.
2 Siehe Dresdner Volkszeitung vom 19. Oktober 1923.
3 Siehe Dresdner Nachrichten vom 18. Oktober 1923, Seite 5.
4 Siehe Dresdner Nachrichten vom 19. Oktober 1923.
5 Siehe Dresdner Volkszeitung vom 20. Oktober 1923.
6 Siehe Dresdner Nachrichten vom 21. Oktober 1923.


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.