Mehr als 200 Menschen waren am Donnerstag in die Synagoge Dresden-Neustadt gekommen, um der Opfer der Reichspogromnacht zu gedenken. Vor 85 Jahren wurden im Dritten Reich Synagogen angezündet, jüdische Geschäfte zerstört und tausende Jüdinnen und Juden verfolgt und ermordet. Um diesen Verbrechen zu gedenken wurde aus Victor Klemperers Werk „Lingua Tertii Imperii (LTI) – die Sprache des Dritten Reiches“ von Schauspieler*innen des Staatsschauspiels vorgelesen.
Akiva Weingarten, der Gemeinderabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Dresden, ist zufrieden. Schon um 19 Uhr, eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung, ist die erst kürzlich eingeweihte Synagoge Dresden-Neustadt gefüllt. Die Menschen stehen bis in den Flur, um der Lesung noch zuhören zu können.
Anlässlich des 85. Jahrestages der Reichspogromnacht veranstaltete die jüdische Gemeinde eine Gedenkveranstaltung der besonderen Art. „Wir müssen aus der Geschichte lernen, damit Sie sich nicht wiederholt. Aber nicht alles kann man über eine Rede oder ein Interview vermitteln,“ sagt Rabbi Akiva Weingarten. „Wir kommunizieren mit dieser Veranstaltung auf einer Ebene der Kunst“.
Das bilde eine Art von Zusammenleben und von Gemeinschaft, in der man sich kennenlernt. „Und jetzt gehen die Menschen nach Hause und erzählen, dass sie in einer Synagoge waren und Juden getroffen haben. Und erzählen, dass die Juden relativ nett waren – ich hoffe, dass wir nett waren“, führt der Rabbiner aus und lacht.
Zu Beginn der Veranstaltung sprechen verschiedene Redner*innen, unter anderem der stellvertretende Intendant des Schauspielhauses Jörg Bochow, Rabbi Akiva Weingarten und der Vorsitzende der Gemeinde Barnett Moshe. Nach den einleitenden Worten beginnen die Schauspieler*innen des Schauspielhauses Jakob Fliess, Karina Plachetka und Oliver Simon vorzulesen.
Chronologisch werden Auszüge aus Victor Klemperers Buch verlesen, wobei die heutige gesellschaftspolitische Relevanz des Buches im Vordergrund steht. Immer wieder reagiert das Publikum erschrocken auf harte faschistische Vokabeln und Hitler-Zitate, weswegen die Vorleser*innen vor den Zitaten kurz inne halten oder diese anders betonen. Während der Lesung werden ständig weitere Bänke hereingetragen, damit alle Platz finden können.
Die Jüdische Kultusgemeinde Dresden
Im Jahr 2021 gründet Akiva Weingarten mit anderen Mitstreiter*innen die jüdische Kultusgemeinde am alten Leipziger Bahnhof. Sie ist inzwischen die dritte jüdische Gemeinde in Dresden. „Wir brauchen hier eine offenere, liberalere, zugänglichere und jüngere Gemeinde, eine Gemeinde die aktiv ist und kulturelle Veranstaltungen organisiert“, sagt Akiva Weingarten. Der Rabbiner ist der Meinung, dass die jüdische Kultusgemeinde es geschafft hat, diese Prinzipien umzusetzen.
Die Gemeinschaft hat fast 250 Mitglieder, mit einem Durchschnittsalter von 25 bis 30 Jahre. Viele der Mitglieder wären zuvor nicht in anderen Gemeinden Mitglied gewesen und hätten ihr Judentum daher nicht ausleben können. In der jüdischen Kultusgemeinde Dresden-Neustadt sei jedoch Platz für eine säkulare und liberale Auslebung des jüdischen Glaubens.
Während des Interviews kommt ein Mensch aus der Nachbarschaft hinzu. Er bringt weitere Sitzbänke für die Lesung und unterhält sich mit dem Rabbiner kurz über seine gesundheitlichen Probleme. Für die Nachbar*innen ist die jüdische Kultusgemeinde weit mehr als nur eine Synagoge.
Sie ist sozialer Anlaufpunkt und fest integriert in der Nachbarschaft. Man helfe sich gegenseitig, sagt Akiva. Manchmal suchen Menschen in der Gemeinde Unterstützung, weil sie zu viele Drogen genommen haben oder duschen möchten. Gleichzeitig leihen beispielsweise die Blaue Fabrik oder die Hanse 3 der Synagoge Sitzbänke und Stühle.
Akiva Weingarten wünscht sich, dass „das Judentum zum Alltag und zur Normalität in Deutschland gehört.“ Man wolle auf allen Ebenen Teil der Gesellschaft sein.
Der alte Leipziger Bahnhof als Ort der Synagoge
Dort wo Rabbi Akiva Weingarten heute arbeitet, befanden sich zu Zeiten des Nationalsozialismus die Bürogebäude der Reichsbahn. Von hier aus wurden Jüdinnen und Juden in die Konzentrationslager deportiert. „Es hat großen Wert für uns, genau an diesen Ort zurückzukehren. Wo früher Nazis saßen, sitzen heute Juden und feiern jüdisches Leben, jüdische Kultur. Wir freuen uns, wir tanzen und singen. Aber wir erinnern uns natürlich auch, insbesondere an einem so traurigen Tag wie heute,“ sagt Akiva Weingarten.
„Unser Sieg gegen Faschismus, Intoleranz und Menschenhass, liegt darin, dass wir hier und heute mit jungen aktiven Menschen, jüdisches Leben zelebrieren und fortsetzen.“
Was sich für die Gemeinde seit dem 7. Oktober verändert hat
Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober kann die jüdische Kultusgemeinde Dresden ihre Werte und Prinzipien nur noch eingeschränkt ausleben. Für Akiva sind schlimmste Albträume wahr geworden. Viele der Gemeindemitglieder haben Angst zur Gemeinde zu kommen.
„Früher waren die Gottesdienste offen für alle. Wir hatten viele Interessierte, die vorbeigekommen sind, um zu schauen, zu fragen und uns kennenzulernen“, sagt der Rabbi. Doch seit dem 7. Oktober seien die Gottesdienste erstmal nur noch für Gemeindemitglieder, aus Sicherheitsgründen und weil viele Gemeindemitglieder einen Raum brauchen, wo sie sich geschützt fühlen und wo sie mit anderen Jüdinnen und Juden trauern können. „Die Mitglieder haben Freunde oder Familienangehörige verloren“, sagt Akiva Weingarten. Die Synagoge wird inzwischen ständig von der Polizei bewacht.
Akiva Weingarten gibt seine Vision trotzdem nicht auf. Er und die Gemeinde möchten „in einer Welt leben, in der alle Menschen gleich behandelt werden, in der sich alle Menschen sicher fühlen, egal woher sie kommen, mit wem sie schlafen, was sie glauben oder nicht glauben.“
Man müsse jeden Tag einen kleinen Schritt in diese Richtung gehen. Und mit jedem Schritt die Welt „ein klein bisschen besser, toleranter, aufgeschlossener, bunter und multikultureller machen.“ Darauf komme es Akiva Weingarten im Wesentlichen an.
@Anton: Ich hoffe doch sehr, dass die meisten Anwesenden nicht der Verbrechen, sondern der Opfer dieser Verbrechen gedachten.
Davon abgesehen empfand ich es als kruden Nebenaspekt, die Einleitung einer Veranstaltung, welche die politische Instrumentalisierung der Sprache thematisiert, u.a. anhand des Wortes „total“, nicht nur in formvollendeter, sondern quasi totaler Gendersprache zu hören (das Mitglied -> die Mitglieder_innen). Wenigstens haben sie den Klemperer noch im Original gelesen.
Danke für den Hinweis. Ich hab den Satz mal entsprechend geändert.
@DRK Das ist schon ganz schön weit hergeholt, wie du das Gendern hier implizit mit Totalitarismus gleichsetzt. Niemand zwingt dich dazu, selbst zu gendern. Aber respektiere bitte, wenn andere dadurch Frauen und nicht binäre Menschen gleichberechtigt mit erwähnen wollen.
Was Klemens sagt.
Darüber hinaus analysierte Klemperer in „LTI“ den Sprachgebrauch der Nazis und seine Auswirkung auf die öffentliche und private Sprache. Unter anderem wie es den Nazis gelingen konnte, Konnotationen eines Wortes zu verändern, indem sie es in Kombination mit abwertenden Adjektiven verwendeten und dadurch eine negative Assoziation auf den jeweiligen Begriff übertrugen (Sprachlenkung). Hinsichtlich @DRK Kommi lass ich das mal so stehen.