Die Tür öffnete sich und das Geläut der Glocke ertönte. Die Blicke von Friseurmeister Giersch und die der auf dem Frisierstuhl sitzenden Gattin des Besitzers des nachbarlichen Hotels „Zum Kronprinzen“, Klara Friedrich, wandten sich der hereinschwebenden Person zu.
Gehüllt in einem weiten Pelzmantel von edlem Fuchs und behütet mit einer turbanähnlichem Kopfbedeckung mit einer Aigrette, einem in einem Edelmetallring drapiertem Busch aus Reiherfedern, strahlte Frau Bäckeroberinnungsmeister Erna Kuntzsch aus der Hauptstraße 12 in die Runde. Klara Friedrich blieb der Mund offen stehen. An diesem kühlen und trüben 19. November 1912 ging im Salon Giersch die Sonne auf. Was für ein Auftritt, ging es der an einem Tisch sitzenden Schneiderin Sarah Scholz durch den Kopf.
Im neusten Pariser Schick
„Guten Tag, meine Gutsten. Ich hoffe, es geht euch gut. Ich habe frische Apfeltörtchen mitgebracht. Meister Giersch, könnten Sie bitte Ihre werte Gattin bitten, uns allen einen Kaffee zu kredenzen. Natürlich auf meine Rechnung. Danke sehr, mein Gutster“
Lehrjunge Alfons eilte herbei und half der Frau Oberinnungsmeister aus Mantel und Hut. Zum Vorschein kam ein in hellem beige gehaltener, eng geschnittener und asymmetrisch drapierter Rock, der oben am Hals einen mit Fischbein versehenen Stehkragen hatte und unten bis zu den Knöcheln reichte. Die enganliegenden Ärmeln hatten am Handgelenk weiße Stulpen. Darüber trug sie eine hellblaue Tunika, eine überlange Bluse, die von einer Bordüre mit zarten Blumen umrandet war. Am Ausschnitt über dem Busen konnte man einige der neuesten Druckknöpfe des Hans Prym1 sehen, die dieser 1903 erfand. Die Füße steckten in edlen Lederpumps.
Nachdem sich die Münder der Friedrich und der Scholzen geschlossen hatten, gewann die Hotelbesitzergattin ihre Worte wieder.
„Ich werd‘ nicht wieder. Liebste Erna, toll siehst du aus. Ist das ist der neuste Schick aus Paris?“
Erna fühlte sich geschmeichelt und drehte sich anmutig im Kreis. „Hab ich gestern bei Renner am Altmarkt gekauft. Das ist ganz im Stil von Paul Poiret, dem angesagtesten Pariser Modeschöpfer.
„Der Hut…, die Federn… Nein Erna, ich bin hin und weg“, flüsterte die Schneiderin. Auch die mit dem Kaffee erscheinende Frau Friseurmeister Giersch verlor für einen Moment die Sprache und fast das Tablett. Dann packte Klara die Törtchen aus und Alberta Giersch goss den Kaffee in die Tassen. Alle ließen es sich schweigend schmecken.
Die Düfte des Körpers
Dann ging die Tür zum Salon erneut auf und ein junger Bote brachte ein Päckchen für den Herrn Barbier. Die Hotelgattin bekam Schnappatmung und die Frau Oberinnungsmeister hielt sich die Nase zu. Als der Junge wieder draußen war, ergriff Alberta Giersch als erste das Wort.
„Der kleine Vincent vom Stadtoberaufseher Hertel oben im dritten Stock müsste sich auch wieder mal baden und saubere Wäsche anziehen. Pfui Deiwel, wie der stinkt.“ Zustimmung in der Runde.
„Ich weiß nicht, warum immer noch diese merkwürdigen Annahmen im Volk herumwabern, wonach das Baden im Winter schädlich für die Haut sei. Das schlimmste ist, dass diese Meinungen auch in den besten Kreisen vorherrschen. Habe ich gestern bei Renner erlebt. Außen hui und drunter pfui. Und das war nicht mal ein älteres, gebrechliches Semester. Die war noch jung. Wie die wohl einen gut situierten Mann kriegen will, wundert mich schon“, echauffierte sich Erna Kuntzsch.
„Es soll ja Männer geben, die stehen auf sowas“, erwiderte kühl Klara Friedrich und rümpfte ihre Nase.
„Furchtbar“ rief Sarah Scholz. „Ein Glück, dass ich Witwe bin und über solche unzüchtigen Dinge erhaben bin.“
Friseurmeister Giersch grinste und verkniff sich eine bissige Bemerkung von wegen Mumienschändung und so. Sonst hänge in den nächsten Stunden sein Haussegen schief. Deshalb konzentrierte er sich auf die Lockenpracht der Gattin vom Besitzer des Hotels „Zum Kronprinzen“.
Ein erfrischendes, warmes Bad
Alberta Giersch nahm den Faden zur Badeproblematik wieder auf. „Ich habe gelesen, dass ein warmes Bad auch im Winter sehr erfrischend sein kann. Am besten solle man morgens baden, habe ich gelesen. Natürlich sollte auch der Raum, wo man badet, gut gewärmt sein, habe ich gelesen. Schon das allein können sich die Leute der ärmeren Schichten gar nicht leisten.“2
„Haste du wohl auch gelesen“, warf Erna lachend ein, um dann wieder ernst zu werden. „Wasser zum Waschen haben diese Leutchen auch und Seife kann sich heutzutage wohl der Ärmste leisten. Aber zu uns. Nach dem Bade muss man im Bett kuschelig ruhen. Wenn ich mir das so vorstelle, einfach herrlich, meine Gutsten.“
„Aber dazu muss das Bett mit Wärmflaschen wohl temperiert sein, sonst holt man sich unter der Bettdecke eine saftige Erkältung.“
„Ja“, meldete sich Sarah, „das ist was für verwöhnte Flittchen. Ich schlafe kalt und bleibe trotzdem von Erkältungen verschont.“ Das kam bei den Freundinnen im Friseursalon gar nicht gut an. Erna Kuntzsch lief puterrot an und machte den Anschein, gleich zu platzen.
„Hast du sie noch alle? Du Mäuschen aus dem vierten Stock in der Hauptstraße 9. Wir sind weder Flittchen, noch verwöhnt. Wir haben uns unseren Wohlstand hart erarbeitet. Zumindest unsere Männer“, fügte sie leise hinzu. Klara und der Friseurmeister nickten, was Sarah veranlasste, den Salon hoch erhobenen Hauptes zu verlassen.
„Die sehen wir wohl nicht wieder“, meinte bekümmert der Friseurmeister. „Ach was“, wehrte seine Gattin ab. „Die kommt wieder. Nur hier bekommt sie doch die erforderliche Dosis für ihre Tratschsucht.“
Alles lachte und dann war Erna Kuntzsch bei Herrn Friseurmeister Giersch an der Reihe.
Das neue Tangofieber
Frau Friseurmeister Giersch lenkte das Gespräch wieder zur Garderobe der Frau Oberinnungsmeister.
„Sag mal, Erna, unser Kaiser in Berlin kann diesem modischen Schnickschnack des Herrn Poiret3 aus Paris nichts abgewinnen. Wegen Erbfeindschaft und so. Er ist auch strikt gegen diese Kleidung, weil sie diesem neuen Tanz, dem Tango, eine lüsterne Ausstrahlung gäbe. Seinen Offizieren habe er das Tangotanzen sogar strikt verboten.“
„Ach lass mal unseren Kaiser Kaiser sein, liebe Alberta. Ich trage diese Sachen, weil sie mir gefallen. Majestät braucht sie doch nicht anzuziehen“, meinte Erna keck und rechte ihr Kinn nach oben. Alles lachte, nur der Friseurmeister nicht.
„Meine Damen, passen sie auf. Wenn das die Spitzel hören, sind Sie dran wegen Majestätsbeleidigung. Und ich, weil Sie das in meinem Laden taten.“ Seine Frau winkte ab. Sie liebte diesen Tanz und hatte für ihr Grammophon einige Schellackplatten mit dieser Musik im Schrank. Nur ihr Gatte war ein Tanzmuffel. Aber es gab bei den Bällen genug andere Herren. Nur zum Tanzen, wohlbemerkt.
„Ach Albert. Hier sehe ich keinen Spitzel und du hälst deine Gusche. Alles klar?“ Albert nickte.
„In einem hast du recht, Alberta. Diese Mode sieht nicht nur extravagant aus, sie passt auch gut zum Tango. Als hätte sich der Poiret davon inspirieren lassen.
Inzwischen war auch der Herr Friseurmeister mit der Haarpracht der Frau Oberinnungsmeister fertig. Klara und Erna henkelten sich ein und verließen den Salon.
Auf der Straße bestaunte Klara den turbanähnlichen Hut mit den Reiherfesern auf Ernas Kopf und gab ihre Hände in die ihrer Freundin. „Liebste Erna, morgen mache ich mich auf zum Kaufhaus Renner. So einen Schick muss ich auch haben.“
Anmerkungen des Autors
1 Inhaber der Metallwarenfabrik William Prym in Stolberg/Rheinland und Erfinder eines noch heute gebräuchlichen Druckknopfes.
2 Siehe Dresdner Nachrichten vom 12. Dezember 1912.
3 siehe Wikipedia unter Paul Poiret
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.