„Das war alles?“, rief Richard Thalemann enttäuscht. Seine Freunde zuckten mit den Schultern. „Du als Mitglied im Radioklub Dresden1 müsstest doch wissen, was ein sogenanntes Radio sein sollte“, reklamierte Peter Drechsel und streute damit noch Salz in die Wunde des peinlich berührten Paul Hofmeister.
Die drei Freunde aus der Alaunstraße in der Dresdner Neustadt fieberten seit Wochen diesem zweiten Adventssonntag im Dezember 1923 entgegen. Und nun das. Der junge Kaufmann Paul Hofmeister zählte zu den Ersten, die dem Radioklub Dresden beitraten.
Mittlerweile hatte der schon mehr als einhundert Mitglieder. Ziel war die Ausbreitung des Radios in privater Hand, der Erwerb von privaten Lizenzen zum Experimentieren mit Radioübertragungen und die Schaffung eines Senders Dresden für das Medium des Unterhaltungsrundfunks für Konzerte und Belehrungen.
Je zahlreicher der hiesige Radioklub an Mitgliedern wäre, je früher könnte Dresden einen eigenen Rundfunksender erhalten. Dieses Ziel wurde dann am 22. Februar 1925 erreicht. Aber bis dahin sollte noch einiges Wasser die Elbe hinunter fließen. Jetzt im Dezember 1923 ging es um den Empfang der ersten Radiosendung.
Erst vor wenigen Wochen, am 29. Oktober 1923, hatte die Deutsche Reichspost das Verbot des privaten Empfangs von Radiosendungen aufgehoben.2 An diesem Tag startete die erste deutsche Radiosendung aus einem Studio, dass sich in einer Dachkammer im Hause des Schallplattenkonzerns VOX nahe dem Potsdamer Platz befand.
Auf zum Ausstellungspalast
Ein Weg zur Bekanntmachung des Radios war hier vor Ort die Kooperation mit der Oberpostdirektion Dresden, mit der Watt-Elektrizitäts-AG in der Landeshauptstadt sowie mit dem Verband Deutscher Reklamefachleute. In allen Tageszeitungen wurde auf den Vortrag über den Radio-Rundfunk mit praktischen Vorführungen und der bevorstehenden ersten Radio-Übertragung aus Königs Wusterhausen in den Ausstellungspalast am Straßburger Platz für Sonntag, den 9. Dezember 1923 vormittags um 11 Uhr hingewiesen.3
Irgendwie war aber von Anfang an der Wurm drin. Als Erstes rechnete niemand von den Veranstaltern mit dem großen Andrang.4 Mehrere tausend Interessierte beiderlei Geschlechts, Alte und Junge, alle die, die eine Sensation witterten, strömten dorthin, harrten zunehmend schimpfend in der Kälte und drückten dann ungeduldig und verärgert die Eingangstüren ein. Typisch Post, miese Organisation, alles Arschlöcher da drin, waren noch die harmlosesten Bemerkungen. Viele Mäntel und Kleidungsstücke wurden zerrissen, Kinder gingen verloren, blaue Flecke erinnerten noch nach Tagen an diesen „sensationellen Sonntag“.
Großes Gedränge
Nicht jeder, der schon eine Eintrittskarte hatte, kam hinein. Ein ohrenbetäubender Lärm erfüllte auch die restlichen leeren Hallen der irrlichtend wandelnden Leute auf der Suche nach dem Veranstaltungssaal. Bald war der überfüllt, standen die Leute eng aneinander, wie in einer Heringsdose. Manche Hand ertastete die nicht dem eigenen Körper gehörende Umgebung, mal auf der Suche nach Geldbörsen oder Schmuck, mal in der Untersuchung der Anatomie fremder Damen und auch Herren. Der Raum war erfüllt von den Ausdünstungen aus den schweißtreibenden Poren und einiger anderer Körperöffnungen. Aber niemand verließ den Raum.
Amateure betrieben die ersten Radioprogramme
Die Veranstaltung begann mit einer kleinen Begrüßung und einem Werbe-Stummfilm über die Errichtung der Radio-Rundfunk-Station in Königs Wusterhausen und einer albernen Reklame über Schokolade und Zigaretten. Die Leute riefen, ungeduldig werdend, nach der Radioübertragung. Sie mussten immer wieder beschwichtigt werden. Man müsse noch auf das Sendesignal warten, so hieß es.
Dann sprach Dr. Brunner von der Watt-Elektrizität AG Dresden über das Prinzip der Telefonie und der darauf beruhenden Rundfunkübertragung und zeigte ein anschauliches Experiment mit abgestimmten Stimmgabeln. Anders als in Amerika und England habe bei uns die deutsche Postverwaltung das Monopol der Rundfunkübertragung. Die Sendungen wurden von Postbeamten in amateurhafter Weise selbst gestaltet. Da spielte der eine mal Geige, ein anderer sang dazu und ein dritter sendete eine Übertragung von seinem Grammophon. Das hörte sich meistens so an, als würde jemand einer Katze auf den Schwanz treten. Die Zahl der Radiohörer war entsprechend überschaubar. Die Empfangsgeräte konnte man in Berlin nur lizensiert von der Post für 37 Goldmark erwerben. Eine monatliche Rundfunkgebühr von zunächst 2 Mark gab es dann ab dem 1. April 1924.
Die erste Radioübertragung nach Dresden
Endlich war es so weit. Der Sender Königs Wusterhausen in 180 Kilometer Entfernung erhöhte extra für diese Sendung seine Leistung. Und dann war das ersehnte Sendesignal um 11.50 Uhr in Dresden zu hören.5 Sonst hatte der bis dahin einzige Sender in Deutschland eine Reichweite von fast 150 Kilometer bei sehr verrauschter niedriger Frequenz.
Augenblicklich herrschte eine erwartungsvolle Stille im Saal. Die Technik war leider höchst unreif entwickelt. Zunächst hörte man aus einem Grammophontrichter, der aus einem Wust an Technik hervorstach, nur Gestöhne und Gekrächze. Einige vorlaute Burschen machten zotige Bemerkungen, die die umstehende Damen erröten ließen. Jemand schien zu reden. Dann ertönte, wie von Ferne etwas, dass sich nach Gesang mit Klavierbegleitung anhörte. Danach war etwas Undefinierbares von einem Orchester zu hören. Einige Kenner meinten, es sei was von Puccini.
Die drei Freunde, die nur etwa zwei Meter vom Schalltrichter entfernt standen, hörten etwas, das an eine brodelnde Teemaschine erinnere, meinte Richard Thalemann. Der Höhepunkt der Sendung war wohl ein in etwas besserer Qualität zu hörender Walzer. Paul Hofmeister verwies als Kenner der Materie darauf, dass noch keine geeigneten Lautsprecher erfunden seien. Er sei aber in guter Hoffnung. Noch müssten sich die Zuhörer in Berlin sogar nur mit Kopfhörern begnügen. Damit könne man aber schon besser hören als hier über diese Wundertüte von Grammophontrichter, meinte Paul.
Um 12.50 Uhr beendete das radiotechnische Zeitsignal die Übertragung aus Königs Wusterhausen.6 Richard, Paul und Peter verließen so schnell es ging den vermieften Ausstellungspalast und wanderten, die angenehme Kühle der Winterluft genießend, über die Albertbrücke in die Neustadt und schnurstracks in ihre Stammkneipe. Durst beschleunigt bekanntlich enorm die Schrittfrequenz.
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Nachrichten vom 19. Oktober 1923
2 Siehe Wikipedia unter Sender Königs Wusterhausen
3 Dresdner Neueste Nachrichten vom 5. Dezember 1923
4 Dresdner Volkszeitung vom 10. Dezember 1923
5 Dresdner Neueste Nachrichten vom 11. Dezember 1923
6 Dresdner Nachrichten vom 10. Dezember 1923
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.
Im 4. Absatz ist versehentlich vom Dezember 2023 die Rede.
Danke. Korrigiert.
Spannende Geschichte, wie immer. Zum abgebildeten Empfänger: Es hat Anschlüsse für eine (riesige) Antenne und Kopfhörer, keinen Lautsprecher. Es funktioniert ohne Stromversorgung. Der Radioempfang war gut, solange man erstens überhaupt etwas hörte und zweitens vor lauter Rauschen überhaupt noch etwas verstand.
Man muss sich vorstellen, was es für die Menschen bedeutete. Nicht mal ein Radio hatten die. Man musste wohl oder übel in die Kneipe. Oder an den Gartenzaun. Bereits vor Entwicklung des „Sprechfunks“ gab es viele Hobbyfunker auf Basis der Morsetelegrafie. Es war halt der neueheißegeile Scheiss. (Naja, während meiner Schulzeit konnte ich das Morsealphabet noch auswendig. Heute braucht das „keiner“ mehr.) Im Wikipedia unter Morsecode gibt es das berühmt-berüchtigte SOS zum Anhören.
Heutzutage gehen die Leute auf der Straße und reden mit Leuten, die gar nicht da sind. Bedenklich.