Dass Adele Lampel als Letzte in die Runde des heutigen Kränzchens an diesem relativ milden, aber recht trüben Nachmittag des 17. Dezember 1923 ins Narrenhäusel hineinschneien würde, war den bereits drei Anwesenden klar. Adele brauchte Aufmerksamkeit und Adele bekam Aufmerksamkeit.
Der Auftritt – einer Diva wert
Da sich die Damen seit dem Sommer nicht gesehen hatten, war das Staunen groß. Auch die Gäste an den anderen Tischen stellten ihre Gespräche ein und bestaunten Adele wie eine Gestalt von einem anderen Stern. Die Schauspielerin aus dem Alberttheater gab ihr pelzbesetztes, dreiviertellanges Winter-Jackett aus Kaschmir ohne Taille und Gürtel dem Kellnerlehrling im Vorbeigehen in die Hand. Ihr knöchellanges beige Kleid betonte ihre androgyne Figur, die den Freundinnen am Tisch seit dem letzten Treffen noch ausgeprägter erschien.
Ihr, der gängigen Mode nicht angepasstes extravagantes Stilkleid war in abstrakten Farbharmonien in Erdbraun, Sandbeige und Dunkelrot nach dem Bildspektakel der französischen Malerin Sonja Delaunay-Terk1 geprägt. Das Kleid war insgesamt sehr schmal und knöchellang. Die Taille rutschte nach unten. Hinten war der Rücken frei. Drunter trug sie, ganz feministisch geprägt, keinen BH. Ein schmaler lockerer Gürtel war mit Strass bestickt. Strass funkelte auch auf dem Kleid im elektrischen Licht der Kronleuchter im Café. Beschuht war sie mit flachen, spitzen Stiefeletten. Die Frisur war aktuell im Ponyschnitt im Stil von Pola Negri2 geprägt. Und den Kopf zierte ein runder, kleiner weicher Hut, Topf genannt.
Adele genoss ihren Auftritt, zumal ihre Freundinnen den hintersten Tisch reserviert hatten und sie deshalb zur eigenen Freude durch das ganze Café flanieren durfte.
„Nun könnt ihr eure Guschen wieder schließen. Sonst bekommt ihr noch Maulsperren und seid nicht mehr in der Lage, die schönen Torten oder den herrlichen Stollen zu verdrücken.“ Adele lächelte charmant, begrüßte und umarmte ihre Freundinnen, die Hoteliersgattin Erna Schwuppke von der Bautzener Straße, die Beamtengattin Martha Kruska und Frieda Lempke, die Schneidermeisterin von der Königstraße.
Die Mode der anderen
Frieda fasste sich als erste. „Wahrlich ein toller Schick. Wir können uns sowas auch jetzt nach dem Ende der Inflation nicht leisten.“
Adele winkte ab. „Kein Problem, liebe Frieda und ihr meine Freundinnen. Ich sehe es jeden Tag in den Vorstellungen. Diese verruchte Inflation hat auch die noblen Theatergänger ärmer gemacht. Die Eleganz hat nachgelassen. Nur noch die Insassen der Logen und die reichen Ausländer überraschen mit gleißenden Toiletten. Der deutsche Normalbürger, der kleine Unternehmer, die Gattin des Handwerkmeisters oder des Bankiers sind zur äußersten Bescheidenheit gezwungen.“
Die drei anderen wären vor Scham gern in den Boden versunken. Ihre Tageskleider waren durchweg aus dicken, in dunklen Farben sehr haltbarer Stoffe beschaffen. Zweckmäßigkeit stand in diesem politisch und wirtschaftlich unruhigen Zeiten im Vordergrund.
Aber die Diva hatte tröstende Worte. „Meine Lieben, ich weiß um die Lage hierzulande. Und ich bin kein Maßstab. Ich bin wie ich bin. Ich brauche das. Und ich habe Verehrer, die wollen das so.“ Und wenn sie das so wollten, dann sollen sie das auch finanzieren, meinte sie süffisant. Dann stand sie auf und legte Erna Schwuppke beide Hände auf die Schulter. „Ihr braucht euch nicht zu schämen. Von meinen kleinen Gagen könnte ich mir das auch nicht leisten. Ihr seid meine Freundinnen ohne Wenn und Aber. Punkt.“
Und dann winkte sie den Ober herbei und alle bestellten Kaffee und ein Stück Stollen. Nur Martha nicht. Sie freute sich schon die ganze Woche auf die berühmte Zitronensahnetorte.
Küssen verboten
Als der Kellner das Bestellte zu den Damen brachte, nutzte Martha Kruska die Stille, um das Thema zu wechseln. „Wusstet ihr, dass man in Amerika vom Küssen immer mehr abkomme?“3 Dankbar wurde diese Wende am Tisch aufgegriffen. Adele rief empört und mit ihrer wohl temperierten dunklen Stimme, die sofort die Aufmerksamkeit im ganzen Café erheischte: „Das darf doch nicht wahr sein. Die Amerikaner werden immer närrischer. Nicht mehr küssen. Ha. Nicht mit mir.“
Und Frieda Lempke fragte als Einzige sinnend und nachdenkend nach den Gründen. Martha hob an, nachdem sich alle einigermaßen beruhigt hatten. „Die Amis meinten das aus hygienischen und moralischen Gründen.“
Das sei doch dämlich, erwiderte Adele erbost. Sie kenne Amerikaner. Die zeigten sich in der Öffentlichkeit zwar prüde und zurückhaltend, aber sobald sie mit ihr allein seien, war von hygienischer und moralischer Abstinenz beim Küssen nichts zu spüren. Alles lachte am Tisch und auch die Gäste an den Nachbartischen konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Über das Küssen
Die gebildete Frieda hob den Zeigefinger und hatte damit die Aufmerksamkeit der anderen Freundinnen wieder für sich, denn diese wussten vom Bildungsschatz der Schneidermeisterin. „Schaut euch doch nur in der Literatur um. Vor hundert und mehr Jahren war das Küssen in der Öffentlichkeit gang und gäbe. Da sanken sich Männlein und Weiblein ständig in die Arme und wechselten ständig die Mäulchen. Oder nehmt den Dichter Klopstock4, der eine seiner Gestalten süße Geschenke von den Lippen der Schweizer Mädchen sammeln ließ. Statt eines harmlosen Handkusses gaben sich viele zur Begrüßung oder zum Abschied einen Kuss auf den Mund.“
Und schon warfen sich die Damen am Tisch lachend Küsse zu.
Anekdoten vom Küssen
Einmal im Redefluss, hörte Martha nicht auf. „Es gab da mal einen Gelehrten, Heckelius genannt, der verfasste 1675 ein Traktat über das Küssen.“ Nun hatte sie wieder aller Aufmerksamkeit. „Da gäbe es zum Beispiel den Florentiner Kuss. Dabei halte man eine Person an den Ohren und küsse diese auf den Mund. Auch in der Politik spiele der Kuss eine bedeutende Rolle“, fuhr Martha fort. „So setzte die Herzogin von Devonshire die Wahl des großen englischen Staatsmannes Fox durch, indem sie einen widerspenstigen Wähler intensiv küsste. Und die Herzogin von Gordon soll mittels ihrer Lippen ein paar unbotmäßigen Schotten, die zum Tode verurteilt waren, das Leben gerettet haben.“
Tiefe Seufzer entstiegen den Brüsten der Damen.
„Aber was haben all diese Geschichten mit den Amerikanern zu tun?“, fragte Diva Adele.
Martha wusste natürlich eine Antwort. „Die Amerikaner mit ihrem Puritanismus waren nicht so offen wie wir hier in Europa. So soll der Herzog von Clarence, der spätere König Wilhelm IV. von England, bei einer Reise in die Vereinigten Staaten zu einem Barbier in Vermont zum Rasieren und Haareschneiden gegangen sein. Als er fertig war, küsste er die Gattin des Barbiers auf dem Mund und sagte lachend, ‚Nun kannst du deinen Landsmänninnen erzählen, dass der Sohn des englischen Königs einer amerikanischen Barbiersfrau einen Kuss gegeben hat‘. Das erregte aber das Missfallen des Herrn Barbiers. Und der gab dem Königssohn einen solchen Tritt, dass dieser aus dem Laden flog. Dabei rief er ‚Nun kannst du deinen Landsleuten erzählen, dass ein amerikanischer Barbier dem Sohn des englischen Königs einen Arschtritt gegeben habe‘.
Alles lachte.
„Und warum ist nun das Küssen in Amerika verboten?, fragte Adele, eine Antwort verlangend, hartnäckig nach. Martha grinste.
„Vom Verbot des Küssens habe ich nichts gesagt. Man sei nur in der Öffentlichkeit vom echten Küssen abgekommen. Aus hygienischen Gründen einerseits. Mir würde es auch den Magen umdrehen, wenn mir so ein Kerl, der aus dem Maul wie ein Misthaufen stinkt, seine Zunge in meinen Hals stecken würde. Und die Spanische Grippe als große Seuche ist auch noch nicht lange her.“
„Und das Moralische?“, fragte Erna Schwuppke.
„Ja das Moralische. Schaut euch doch mal um. Habt ihr je auf der Hauptstraße oder drüben auf dem Altmarkt ein Pärchen sich küssen sehen?“ Alle schüttelten ihre Köpfe. „Seht ihr. Und wenn es doch passiert, seid ihr wohl auf die Rähnitzgasse geraten und habt Damen mit sehr zweifelhaftem Ruf und Männer mit schändlichen Bedürfnissen gesehen. Und deshalb sei des Küssen in der Öffentlichkeit abhandengekommen, meint die amerikanische Presse.“
Das überzeugte das Kränzchen im Café im Narrenhäusel. Adele bestellte zum Abschied noch eine Runde Sekt. Sie hatte genügend Goldmark von ihren Verehrern dabei.
Anmerkungen des Autors
1 russisch-französische Malerin (* 1885, † 1979), Vertreterin der geometrischen Abtraktion, mehr in der Wikipedia
2 polnischer Stummfilmstar (* 1897, † 1987) mehr in der Wikipedia
3 Dresdner Nachrichten vom 9. Dezember 1923
4 Friedrich Gottlieb Klopstock (* 1724, † 1803), Begründer der Erlebnisdichtung und des deutschen Irrationalismus
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.
Wäre eigentlich locker drin gewesen, jetzt zum 100. solcher Kaffeekränzchen endlich im wiederaufgebauten Narrenhäusel zu logieren, doch uferlose selbstauferlegte Hürden deutscher (Baurechts)Bürokratie schafften es zu verhindern. Herzlichen Glückwunsch an alle Bremser und Verhinderer, an alle Paragraphenreiter vom großen Narrenhäusel jenseits der Elbe (so der Volksmund über die Rathausämter), dabei ginge das wunderbare „Häusel“ nach 60 Jahren als Geschenk in kommunalen Besitz über.
Allein der Geschäftsbereich Bau & Stadtentwicklung (GB6) mit dem Bauaufsichtsamt und Stadtplanungsamt, verdingt allein 65 bis 70 Mill. € Personalkosten pro Jahr (laut Haushaltszahlen), nur steht der Mehrwert ihrer „Arbeit“ für die Stadt sehr in Zweifel.
Zusammen mit dem GB7-Umwelt kostet es 105 Mill. € nur Personalgehälter – also pro Jahr ein Kulturkraftwerk oder wahlweise ein Umbau des Kulturpalastes. Der Mehrwert der Arbeitsinhalte der Ämter ist keineswegs nachgewiesen oder ansatzweise transparent, vielmehr bunkert man sich noch mehr in den Versorgungsposten ein. Das nur nebenbei. Advent Advent, nach 100 Jahren kein Licht im neuen Narrenhäusel brennt, Amen.