„Na, wieder nüchtern?“, brummelte Wilhelm Stegemeier, von seiner Zeitung aufblickend, seinen Enkel Karl an, der gähnend mit wirrem Haar gegen 11 Uhr vormittags die geräumige Küche der Familie im ersten Stock der Alaunstraße 28 über dem „Palastrestaurant“ betrat.1
Ernst Stegemeier, der Wirt des Restaurants und Vater von Karl, bediente längst die Gäste des Neujahrfrühschoppens an diesem eiskalten ersten Tag des Jahres 1924. Mama Stegemeier strich ihrem Sohn schmunzelnd über den Kopf, stellte ihm einen starken Kaffee auf den Tisch und widmete sich wieder der Vorbereitung des Mittagessens. Vor dem Kaffee trank Karl ein großes Glas Leitungswasser. Zum Brand löschen, wie Opa immer meinte. Nach den ersten Schlucken der braunen Kaffeebrühe fühlte er sich etwa besser. In der vergangenen Silvesternacht hatte er mit seinen Freunden dann wohl doch zu tief ins Glas geschaut.
Silvester 1923
Opa ließ aber nicht locker. „Nun erzähl schon. Habt ihr euch die Zehen abgefroren?“ Ja, das Wetter der letzten Tage war kein Vergnügen. Trotz dicker Pelzmütze, langen wollenen Unterhosen und drei Paar Socken an den Füßen, wurde man nicht richtig warm. Ein eisiger Nordwest brachte viel Schnee, der die Straßen zuwehte. Wären da nicht Häuser und Brücken, dann würde man sich verlaufen und zu Eisblöcken erstarren. Dicke Eisschollen trieben auf der Elbe dahin.2
Karl und seine Freunde aus der Alaunstraße und vom Bischofsweg zogen bibbernd und ausgerüstet mit Flachmännern durch die fast menschenleeren Straßen dieser Silvesternacht. Immer wieder kreisten die Schnapspullen von Freund zu Freund. Um etwaige Ausschreitungen zu verhindern, hatte der Polizeipräsident vorsorglich das Abbrennen von Feuerwerken und das Zünden von Kanonenschlägen verboten.3 Hilfe bekam die Polizei von ganz oben – vom Wetter. Die Stadt hüllte sich lärmdämpfend in einen weißen Mantel aus Schnee von 5 Zoll (ca. 12 bis 13 Zentimeter). Nicht nur dieses Wetter, was sich viele für Weihnachten gewünscht hatten, hielt, zum Ärger der Wirte, vom Besuch der Restaurants und Kneipen ab. Auch die unruhigen Zeiten und die Folgen der Hyperinflation des Jahres 1923 taten ihr übriges.
Bei den Gutbetuchten saß das Geld wieder lockerer
Opa Wilhelm meinte, dass es so schlimm nicht sei, denn in der Zeitung stehe, dass die großen, anspruchsvollen Restaurants gut besucht sein sollten, wie man auch in ihrem eigenen ‚Palastrestaurant‘ sehen könne. Den Gutbetuchten saß das Geld wieder etwas lockerer. Dem widersprach Enkel Karl, denn gut gehe es nur den Neureichen und Kriegsgewinnlern. Er selbst betreute so nebenbei auch das kleine Kino im hinteren Bereich des ‚Palastrestaurant‘, Palasttheater genannt.
Die Vorstellungen zum Jahreswechsel waren gut besucht. Aber viele andere Lokalitäten hatten mächtig zu knabbern. Nicht wenige gingen in den letzten Monaten in Konkurs. Erschütternd fand Karl, dass er bei seinem Silvesterstreifzug viele Bettler, darunter sehr oft Kriegsinvaliden, vor den Einrichtungen der Vornehmen, wie dem „Kaiserpalast“ und dem „Victoriasalon“ in der Altstadt, aber auch vor dem „Vier-Jahreszeiten“ und dem „Kronprinz“ in der Neustadt sah.
„Ja“, meinte Großvater Wilhelm. „Das sind die Folgen des Krieges und der widersinnigen Kämpfe um Macht und Einfluss der letzten Jahre. Auch die Zeiten nach dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 waren keine leichten. Ich kenne einige aus meiner Generation, die damals lieber gefallen wären, als mit Bein- und Armverlusten in völliger Armut weiter leben zu müssen. Aber gab es nichts Freudiges in der letzten Nacht?“
„Naja, was man so freudig nennen kann“, antwortete Karl. „Um Mitternacht erschollen gedämpfte ‚Prosit-Neujahr-Rufe‘ und die Glocken der Kirchen läuteten. Mehr nicht. Uns reichte es jedenfalls. Eiligen Schrittes ging es über die Augustusbrücke hierher in unser Palastrestaurant“, rief Karl fröhlich aus. Und Opa ergänzte lachend, dass dort wenigstens der Frohsinn wartete. Diesen Frohsinn mit Hilfe diverser Getränke könne man am Filius noch deutlich sehen.
Silvester 1903
Und dann schwelgte Opa, wie so oft, in seinen Erinnerungen. Enkel Karl verdrehte die Augen. Diesmal erzählte Wilhelm Stegemeier vom letzten Tag des Jahres 1903. „Damals regierte unser König Georg. Gott hab ihn selig. So empfing er schon am Vormittag die Honoratioren des Hofstaates, des Militärs und der Priesterschaft, dann wandelte die Königliche Familie in die Hofkirche und anschließend gingen die Empfänge weiter. Abends gab es dann Hofspiele mit einem Konditoren Buffett, alles einem strengen Hofprotokoll unterworfen. Sowas wäre nicht mein Ding. Das Ganze ging dann bis 11 Uhr abends.“4
„Typisch. Der Adel prasst und das Volk darbt“, rief Karl, um den schwelgerischen Bericht seines Großvaters zu unterbrechen.
„Du mit deinen gleichmacherischen Ansichten“, brauste Opa auf. „Ja, ich weiß, dass auch damals vielen hier in der Residenz keine gebratenen Tauben in die Gusche flogen. Aber Sehnsucht nach einem besseren Leben hatten auch diese Menschen. Und dafür wollten sie arbeiten und besser wohnen, nicht erstmal alles zerstören, wie durch diese linke Regierung im Oktober, um dann eventuell was neues, sowjetmäßiges aufzubauen, was eh nicht funktionierte, wie wir jetzt am Ende von 1923 sehen. Aber zurück zu 1903.“ Auch um zu verhindern, dass Enkel Karl wieder seine linken Parolen hervorholen konnte.
Schnell fuhr Opa Wilhelm fort und erzählte, dass das Wetter damals recht mild war, wobei ein strammer Ostwind gefühlt eine trockene Kälte bewirkte. Der Haupttreffpunkt der Dresdner war, wie seit undenklichen Zeiten, der Altmarkt, der sich ab 11 Uhr abends mit Menschen füllte. Dort flanierte man plaudernd auf und ab. Immer wieder fanden sich Spaßvögel, die mit Sprüchen und Anekdoten Umstehende unterhielten und sogenannte Cotillonmützen trugen. Das waren Papiermützen mit bunten Bändern und Fantasieorden, ein Requisit aus den Bällen der verschiedenen Gesellschaften in der Residenz.4 „Und als die Glocken der Kreuzkirche um Mitternacht das neue Jahr 1904 einläuteten, dann prostete man sich zu und ging wieder nach Hause.“
1903 ging alles gesittet zu
Enkel Karl war enttäuscht. „Was denn. Das war alles? Keine Prügeleien? Keine Blockade der Straßenbahnen? Keine Polizeiknüppel? Keine Klassenjustiz?“
Opa lachte. „Hättest du wohl gerne. 1903 ging es noch gesittet zu, nicht so unflätig wie in späteren Jahren. Natürlich gab es auch einige Besoffene, die sich klassenkämpferisch unbedingt mit der Staatsmacht anlegen wollten, aber nur vereinzelt und dann eher welche aus dem Sozi-Milieu. Die Verhaftungen wegen Ruhestörungen waren gleich null. Im ganzen Stadtgebiet gab es nur 10 Sistierungen5. Davon wurden drei Besoffene nur wegen Mitleids mitgenommen, weil die sonst vielleicht erfroren wären.“4
Silvester 1913
Mama Stegemeier hatte bei ihren Mittagsvorbereitungen die Zeit, dem Disput zwischen Großvater und Enkel zu lauschen. „Ich hätte auch was beizusteuern. Und zwar über das letzte Silvester in Friedenszeiten, Silvester 1913. Dein Vater und ich lebten zufrieden. Noch nie ging es uns so gut, wie damals. Und das Wetter am Jahresende spielte mit. Der langersehnte Winter war gekommen. Wie um zu zeigen, dass man das Gute möglichst nutzen solle. Es würde sowieso bald ein Ende haben.
Zwei Grad unter Null, kräftiger Schneefall am Vortage und eine weiße Decke bei nur leichtem Wind – was will man mehr. Die Autos hatten Probleme wegen der Glätte. Aber es gab ja noch die Pferdeschlitten. Diese transportierten die Reichen und die, die sich ihnen anhängten, problemlos mit lustigem Schellengeläut dahin, wo gefeiert wurde.“6
„Also war es damals genauso still, wie gestern?“, fragte Karl.
„Oh nein“, antwortete Mama. „Dein Vater und ich wandelten froh nach dem Kirchgang in der Martin-Luther-Kirche in die Altstadt. Es war ein Treiben auf den Straßen, als müssten noch alle Weihnachtsgeschenke einkaufen. Rasch füllten sich die Vergnügungsstätten und die Kneipen mit frohgelaunten Menschen. Im Gegensatz zu heute musste man Eintrittskarten erwerben, so groß war der Andrang. Dafür gab es auch ein Silvestermenü oder kleinere Imbisse. Unterhaltungsprogramme waren inbegriffen und sehr beliebt.
Die Einrichtungen gingen damit sogar in den Wettstreit um das beste Programm. Dein Vater und ich wählten Tymians Thalia Theater7. Da trat zum ersten Mal ein Instrumentalkünstler namens Bergmann auf. Anschließend feierten wir dort ins neue Jahr hinein. Es war jedenfalls ein fantastischer Abend. Das folgende Jahr ’14 war es leider nicht. Ich war nur froh und bin es noch, dass dein Vater unversehrt aus dem Krieg heimkam.“ Schweigen breitete sich am Küchentisch aus.
Karl verhinderte, dass die bisher gute Stimmung kippte. Deshalb wollte er wissen, ob es auf dem Altmarkt 1913 ebenso ruhig zuging wie zu Opas Zeiten 1903.
„Was ich von unseren Freunden gehört habe“, so die Mama, „soll die Stimmung dort recht gut gewesen sein, nicht so wie zwei Jahre zuvor im Jahr 1911. Da streichelten viele betrunkene Jugendliche die Straßenbahnen und hinderten sie durch Sitzblockaden an der Weiterfahrt. Die berittene Polizei musste hart eingreifen und verhaftete viele.“8
„Und wie war´s denn nun Silvester 1913, friedlich oder revolutionär?“ Karl ließ nicht locker.
„Eher ersteres. Hier und da kam es unter den jungen Leuten zu Schneeballschlachten, die aber nahm keiner ernst. Feuerwerke wurden entzündet, Papierschlangen flogen, Bengalfeuer tauchten den Altmarkt in ein mystisches rotes Licht und Böllerschüsse ließen das Elbtal erzittern. Das Kaufhaus Renner wurde mit dem elektrischen Schriftzug ‚Prosit Neujahr 1914‘ in den Schaufenstern erleuchtet, was viele bestaunten.“
Und mit Blick auf den unruhig hin und her rutschenden Karl sagte Mama noch, dass es wohl auch ein paar pöbelnde, besoffene und übermütige junge Leute gegeben habe. 20 von denen verbrachten die Restnacht in einer Ausnüchterungszelle, wie die Zeitungen schrieben.
„Nun aber Schluss mit dem Gequatsche“, rief Mama energisch. „Jetzt gibt es gleich Mittagessen. Geht schon mal zu Tisch. Ernst wird gleich aus dem Restaurant hoch kommen, nachdem er die letzten Gäste des Frühschoppens hinausexpediert hat.“
Anmerkungen des Autors
1 Das Haus Alaunstraße 28, Ecke Böhmische Straße 2 steht heute nicht mehr.
2 Dresdner Nachrichten vom 1. Januar 1924
3 Dresdner Nachrichten vom 23. Dezember 1923
4 Dresdner Nachrichten vom 2. Januar 1904
5 Bezeichnung für eine vorübergehende Mitnahme (Freiheitsbeschränkung) durch die Polizei zur Feststellung der Personalien; Dauer der Sistierung bis zu 3 Stunden
6 Dresdner Nachrichten vom 2. Januar 1914
7 Mehr zu Tymians Thalia Theater in der Görlitzer Straße 4 bis 6 im Neustadt-Geflüster
8 Siehe Neustadt-Geflüster
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.