Franz genoss die milde Luft dieses Januartages 1924. Es roch nach Vorfrühling, obwohl man dieser Milde nicht trauen durfte. Manchmal erwachte der alte Herr Winter aus seinem Nickerchen und überzog das Land mit Eiseskälte und deftigem Schneefall. Aber nicht an diesem Tag. Franz schlenderte gemütlich, von der Bautzner kommend, die Hauptstraße Richtung Elbe hinunter, in Begleitung seiner Freundin Gerlinde und seinem Freund Hugo, der vor einigen Jahren aus dem Brandenburgischen hierher gezogen war.
Wilhelm Busch, der Melancholiker
Hugo hatte immer kleine Geschichten auf Lager, die er wer weiß woher holte. Jedenfalls wurde er für seinen Anekdotenschatz am Stammtisch und bei jeder Feier geliebt. „Hab ich euch schon mal die Story vom Vater von Max und Moritz erzählt, als er mal so um 1905 bei einem Empfang beim Oberbürgermeister hier in Dresden gewesen sein soll?“1 Das verneinten die Beiden.
„Also, meine Freunde, im Prinzip war damals bekannt, dass der künstlerisch begnadete Busch kein Mann von Frohsinn und Schabernack war. Bei den Streichen, die seine zeichnerischen Strolche verübten, konnte man das kaum glauben. Rauschende Feste vermied er. Empfänge in seinem Heim gab es nie. Er neigte recht stark zur Melancholie. Aber immer konnte er den gesellschaftlichen Zwängen nicht ausweichen.“
Zeit seines Lebens wollte er sich als ernsthafter Maler etablieren. Doch das gelang ihm nicht. Zum Broterwerb zeichnete er Bildergeschichten, die ihn berühmt machten. Werke der Bildenden Künste fanden leider nur Unverständnis, was den Melancholiker in manche Depression trieb.
Als Gast des Oberbürgermeisters
Und so fand sich Wilhelm Busch eines Tages als Ehrengast neben dem Oberbürgermeister Gustav Otto Beutler an einer Tafel in der Bärenschenke in der Webergasse wieder. Ein Trinkspruch von irgendwelchen Stadthonoratioren reihte sich an den nächsten.
Busch flehte innerlich zum Herrgott, dass dieser verhindere, dass auch er das Wort ergreifen müsse. Aber der Herr da oben hörte nicht hin, war anderweitig beschäftigt, hatte selbst einen in der Krone oder einfach nur einen spaßigen Tag.
„Da neigte sich der Herr Oberbürgermeister dem Ohr des Ehrengastes“, so erzählte Hugo weiter, „und flüsterte ihm zu, ‚Verehrter Meister, nachdem wir so viele Reden gehört haben, dürften wir vielleicht hoffen …?‘“
Wilhelm Busch nickte ergeben, schlug mit einem kleinen Löffel an sein Glas. Totenstille trat ein und alle Augen hingen wie gebannt an seinen Lippen. Er lächelte etwas verlegen und dann rief er laut und vernehmlich in die Stille hinein: „Herr Ober, bitte noch ein Helles.“1 An der Tafel bestand danach Einigkeit, dass an diesem Abend keine schönere Rede gehalten worden sei.
Einkehr im Kronprinzen
„Das war ein gutes Stichwort, lieber Hugo“, erwiderte Franz und zeigte auf das Hotel „Zum Kronprinzen“, dass die Gruppe rechterhand erreicht hatte. „Lasst uns einkehren. Meine Gusche ist völlig ausgetrocknet, wie die Priesnitz im Sommer“, meinte lachend Hugo. Dem folgten alle nur zu bereitwillig. Gerlinde war an diesem Nachmittag nicht nach Alkoholischem zu Mute. Ihr gelüstete nach Kaffee und ein Quarkkäulchen. Franz und Hugo bestellten sich je ein Bierchen.
Quarkkäulchen
„Nun kannste endlich mal eine Keule schwingen“, bemerkte Hugo lachend, als das Bestellte kam.
„Quatschkopp“, rief Gerlinde. „Dieses Gebäck aus gekochten Kartoffeln, Quark, Rosinen, Ei und Mehl hat nichts mit einer Keule zu tun. Mit der echten Keule könnte ich dir eine überziehen, damit du den Unterschied begreifst, du Abgesandter der brandenburgischen Streusandbüchse.“ Aus Franz kam ein Glucksen, das sich zu einem schallenden Gelächter erweiterte. Aber Hugo war als lebensfroher Mensch nicht beleidigt und stimmte in das Gelächter ein.
„Also Jungs, damit ihr versteht, was ich meine. Das Wort ‚Quarkkäulchen‘2 hat was mit der Form des Gebäcks zu tun, welche aussieht wie ein Keil. Naja, bei diesem hier auf dem Teller muss man etwas Fantasie walten lassen. Davon abgesehen müssten diese Dinger eigentlich ‚Quarkkeilchen‘ heißen. Und die Einheimischen machten mit der Zeit ‚Quarkkäulchen‘ daraus.“
Straßenbahnerlebnis
„Gute Geschichte“, meinte Franz und prostete beiden zu. „Ich habe auch was beizutragen. Vor kurzem bin mit der Straßenbahn über die Augustusbrücke in Richtung Altmarkt gefahren. Dort saß ich neben einem Berliner. Einem echten. Nicht dass ihr meint, es sei ein Pfannkuchen, obwohl der Kerl diesem nicht ganz unähnlich war.“
„Und der saß wohl in der falschen Bahn?“, warf Hugo ein. „Nein“, entgegnete Franz. „Der fing mit mir ein Gespräch an und meinte, dass wir Dresdner doch recht ulkige Leute seien. Ich schaute ihn so depperd an, wie du mich gerade.“
Dann erzählte Franz dessen Fahrerlebnis in einer Bahn auf der Löbtauer Straße in der Nähe von Treibmanns Schuhfabrik drüben in Löbtau. Als der Schaffner die Haltstelle „Siemens – Werner“ ausrief, fühlte sich der Berliner dazu berufen, den werten Schaffner zu korrigieren.2
„Männecken“, sagte der, „es muss ‚Werner Siemens‘ heißen. Ick kenn mir da aus, denn der berühmte Siemens hat bei uns in Berlin eine große Elektrobude.“
Siemens – Werner oder Werner – Siemens oder was
Aber der Schaffner war nicht auf die Gusche gefallen und belehrte seinerseits den neunmalklugen Berliner. „Man merkts, dass du aus die ‚Jejend‘ bist, wo man die kleenen Schnauzen bloß an den Sahnetöpfchen kennt. Nur mal so zum Klarstellen, mein Gutster. Die Haltestelle an der Löbtauer Straße hat mit deinem Werner Siemens nüscht zu tun. Es münden dort ‚nauszu‘ links die Siemens und rechts die Wernerstraße ein.
Die erstere ist nach der Glasfabrik Siemens und die andere nach dem berühmten Mineralogen und Lehrer an der Freiberger Bergakademie, Abraham Gottlob Werner, benannt. Wärst du von oben gefahren, hättest du recht gehabt. Dann hätte ich die Haltestelle als ‚Werner – Siemens‘ ausgerufen, denn da kommt links zuerst die Werner- und dann rechts die Siemensstraße und die Haltestelle liegt mittendrin.“2 Aber der Berliner nahms nicht krumm und wir lachten beide über diese Geschichte.
Das taten auch Gerlinde und Hugo. Dann gings heimwärts auf die Bautzner.
Anmerkungen des Autors
1 Scherl’s Magazin, Heft 1, 1928
1 Dresdner Nachrichten vom 3. September 1923
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.