„Welch Freude, Sie zu sehen, mein lieber Doktor Rappaport1.“ Sarah Horowitz streckte dem Gelehrten der Jurisprudenz, dem Philosophen und Schriftsteller die Hand entgegen, die dieser formvollendet mit einem Handkuss beehrte. Dann henkelte sie ihn unter und geleitete ihn in den Salon ihrer Wohnung in ersten Stock der Bautzner Straße 33. Dort unterhielt sich ihr Mann, Moses Horowitz, genannt Moritz, intensiv mit dem Hauptmann a.D. Carl Freiherr von Friesen. Als Rappaport den Salon betrat, wurde er von beiden herzlich begrüßt.
Die Horowitz‘ hatten an diesem Freitag, den 18. Januar 1924 mehrere Freunde zur Feier des Beginns des Schabbat2 geladen. Weil sie eher liberale Juden waren, luden sie auch Christen ein. Moritz Rappaport war gebürtiger Wiener Jude und stand der jüdischen Religion eher skeptisch gegenüber. Freiherr von Friesen war Protestant, wie auch der Direktor der Taubstummenanstalt in Dresden, Franz Wegwitz. Und die gerade hereinkommenden beiden Herren nebst Gattinnen, der Nervenarzt Dr. Paul Schenk und der Verlagsbuchhändler Wilhelm Schwarze waren eifrige Besucher der Synagoge3 und beflissene Anhänger jüdischer Traditionen. Sarah Horowitz nahm die beiden Damen Kora Wegwitz und Ester Schwarze unter ihre Fittiche.
Der Skandal im Schauspielhaus
Das war das Thema des Tapisseriewarenhändlers4 Horowitz, dessen Geschäft auf der Bautzner Straße seit drei Generationen in der Hand der Familie ruhte. Der Anlass war der Theaterabend im Schauspielhaus am Tag zuvor. Dort gab es die Premiere des Stückes „Hinkemann“ von Ernst Toller5. Moses Horowitz, genannt Moritz, berichtete mit zunehmender Erregung und hochrotem Kopf.6
Nach 20 Minuten mutierte die Theatervorstellung, so sein Bericht, zu einer ausgearteten Demonstration. Der Vorhang fiel noch im ersten Akt und das Licht ging an. Es begann ein Kampf gegen das Stück, dessen Inhalt wohl die wenigsten kannten. Während des Tumultes trat der Regisseur und Schauspieldirektor Paul Wiecke vor das Publikum und bat mit vornehmen Worten, mit Kritik bis zum Schluss zu warten. Vergebens. Pfiffe, Johlen, mit den Füßen trampelnd und ‚Judenjunge‘ brüllend, behinderten die Störenfriede immer wieder das Weiterspielen. Dann rückte die Polizei an und versuchte, recht nachsichtig, die Ruhestörer zu entfernen. Auch hier vergebliche Mühe. Zur einen Tür führte man diese hinaus und zu einer anderen schlichen sie wieder herein.7
„Wenn ich nur daran denke“, so Moses, genannt Moritz, „zittern mir sofort meine Hände. Ein Teil des Publikums schwieg betroffen, ein anderer amüsierte sich über die ‚ach so forschen Jungs‘. Nur wenige wagten Widerstand und wurden von dem Mob aus dem Zuschauerraum getrieben. Meine Frau konnte die halbe Nacht nicht einschlafen und verbrachte die restliche mit Alpträumen.“
Ob der lauten Rede kam Sarah Horowitz in den Salon und bat ihren Mann um Ruhe und die Gäste zu den Damen ins Esszimmer. „Es ist gleich Erev, (hebräisch: Abend) die Zeit, wo man einen grauen Faden nicht mehr von einem blauen unterscheiden kann. Nehmt also bitte die Plätze ein. Schabbat beginnt.“
Der Schabbat
Mit dem Gruß ‚Schabbat Schalom‘, (hebrä. für Frieden am Schabbat), begrüßte Sarah alle Gäste am Tisch. Zuvor hatte Sarah die Schabbat-Kerzen entzündet, was traditionell Frauensache sei. Dazu gesellten sich die drei Kinder der Horowitz, die Söhne Lewy und Ariel sowie Tochter Ester zu ihnen. Alle bedeckten ihre Augen. Anschließend intonierte Moses das Lied Schalom Alejchem, mit dem die Schabbat-Engel begrüßt werden, gefolgt von einem Dank an die Hausfrau für ihre vorbereitenden Arbeiten. Mit den Händen über dem Kiddusch-Becher, gefüllt mit Wein und über die geflochtenen Schabbat-Brote sprach Vater Moses drei Verse aus der Genesis, den Segenswunsch für seine Kinder, seine Frau und die Gäste sowie den Dank an Gott, dass er uns den Schabbat gegeben hat.
Das Mahl begann mit kleinen Salaten. Anschließend gab es den am Tage zuvor und über Nacht gegarten und in der Röhre warmgehaltenen Tscholent. Das Essen wurde deshalb am Tage zuvor gekocht, weil am Schabbat weder gearbeitet noch gekocht werden durfte. Tscholent war ein gehaltvoller Eintopf aus Rindfleisch aus der Rippe oder der Schulter, mit Bohnen, Zwiebeln, Knoblauch, Kartoffeln, Gerste und gewürzt mit Salz, Öl, Paprika und Honig.8
Freiherr von Friesen wischte seinen Teller mit Brot aus und verdrehte genüsslich die Augen. Auch Rappaport, Wegwitz, Schenk und Schwarze schnurrten und rieben sich ihre Bäuche. Sarah schmunzelte und freute sich über diese Art des Kompliments ihrer Gäste.
Die Diskussion ging weiter
Freiherr von Friesen platzte fast vor Aufregung. Nun sah er den Zeitpunkt gekommen, über das weitere Geschehen im Schauspielhaus von dabei Gewesenen zu hören, ohne die Gastgeberin zu düpieren. Auch die anwesenden Gäste und die beiden Jungs der Horowitz baten Moses, genannt Moritz, um die Fortsetzung seiner Ausführungen vom Skandalabend. Mama Horowitz winkte ab. Der Hausherr ließ die Weinflasche kreisen und schenkte Cognac aus.
„Nachdem man nun vor einigen Tagen entdeckt hatte, dass der Georg Büchner anstößig und ein schlechter Deutscher gewesen sein soll, ging man hier in Dresden auf den Juden, Schriftsteller und Dramatiker Ernst Toller9 in einer wahrlich fanatischen Art der völkischen Bilderstürmerei los“, begann er. „Zu Beginn des zweiten Aktes sangen diese sichtlich bezahlten jungen Leute das Deutschlandlied. Der Hauptdarsteller des Tollerschen Dramas, Bruno Decarli, trat vor die Randalierer und bat um Gehör. Er wurde niedergeschrien. Man kann zu dem Anarchisten und Kriegsgegner Toller stehen wie man will und sein Schaffen ablehnen, aber das rechtfertigt noch lange nicht, dass in einer orgiastischen Rohheit die Vorstellung gestört und die Schauspieler und der Direktor bedroht werden. Das war eine Ungeheuerlichkeit. Ich hatte seit langem wieder Angst. Angst um meine Frau, um meine Familie und Angst vor fast schon vergessene Pogrome gegen uns Juden.“ Horowitz trank seinen Cognac in einem Zug aus.
„Ich kann Ihnen mitfühlen, lieber Moritz“, sprach der Nervenarzt Schenk im ruhigen Ton. „Die randalierenden fanatischen Deutschnationalen waren organisiert auf Skandal aus. Ich war selbst dort. Die Krakeler, meist jüngere Leute, kamen mit vorgefertigter Meinung ins Theater und versuchten diese den anderen Theatergängern aufzuzwingen. Das hatte mit Gefühlsausbrüchen und Freiheit der Meinungen nichts mehr zu tun. Es war ein Spucken auf das wahre Deutschtum. Diesem Mob passte das ganze Stück und der Jude Ernst Toller im Besonderen nicht. Das war deren Hauptproblem.“
„Ja Schenk, das ist richtig. Aber egal wie man zum Inhalt des Toller und seines ‚Hinkemann‘ steht, so darf man nicht die Schauspieler und den Direktor mit Schmähungen, wie ‚Judenfreund‘ niederbrüllen und mit den Füßen rumtrampeln wie im Kindergarten“10, erregte sich Horowitz.
„Dabei hielt der Toller als Freiwilliger im Krieg in Frankreich auch seinen Kopf für Kaiser und Reich hin“, warf Rappaport ein. „Genau wie Sie, werter Horowitz und dafür bekamen Sie sogar das Ritterkreuz.“
Der Freitagabend neigte sich dem Ende
Da es im Eintopf reichlich koscheres Fleisch gab, durfte es nach den jüdischen Schabbatregeln zum Nachtisch keine Sachen aus Milch geben, also keinen Pudding oder Käse, kein Kuhmilcheis. Aber Kuchen.
Als auch dieser genüsslich verspeist wurde, widmete man sich wieder den Geschehnissen im Schauspielhaus. Nun erzählte Sarah Horowitz, dass das Stück doch noch mit Unterbrechungen zu Ende gespielt wurde. Aber man verstand nicht mal die Hälfte der Dialoge. Das Verrückteste war, dass zum Schluss sogar der eiserne Vorhang herabgelassen wurde und die Randalierer versuchten, die Bühne zu stürmen. Dazu trommelten sie wütend auf diesen Eisernen Vorhang ein. „Es gelang nicht, Jahwe sei Dank, diesen zu durchdringen.“
Moritz Rappaport, der bisher ein stiller Zuhörer war, machte darauf aufmerksam, dass der Jude, Anarchist und Kommunist als Beteiligter am sogenannten Münchner ‚Kommunistenputsch‘ 1919 vier Jahre in Festungshaft im niederbayrischen Niederschönenfeld saß. Dabei habe er sich bei den Kämpfen um die bayrische Räterepublik gegen seine radikalen Genossen gestellt und auf diese Weise Menschenleben während einer Geiselnahme an einem Gymnasium gerettet. Das erkannte sogar das sehr streng handelnde Gericht an und sprach ihm mildernde Umstände zu. „Sein ‚Hinkemann‘ war ein Kriegsversehrter. Der wurde durch Schussverletzung seiner Männlichkeit beraubt. Und das sahen diese rechtsnationalen jungen Leute, angestachelt und organisiert von Stahlhelm und der DNVP, als Verunglimpfung der deutschen Soldatenmoral, als eine Verhöhnung des deutschen Vaterlandsgefühls und Toller als perversen Sadisten an.“6
Rechts, links, mittig oder was
Kora Wegwitz lachte auf. „Was soll das für eine Verhöhnung sein? Man brauchte in den letzten Jahren nur auf die Vogelwiese gehen und an jeder Ecke, in vielen Buden stellten sich die bedauernswerten armen Krüppel mit den unmöglichsten Leiden dar. Sonst gab es für sie doch kaum andere Möglichkeiten, etwas Geld zu verdienen, um ihr Dasein zu fristen.12 Wo waren da diese Leute mit ihren Protesten? Amüsiert haben sie sich über diese armen Menschen. Da verstehe ich Toller. Der Krieg hat die Starken entmannt.“
Verlagsbuchhändler Wilhelm Schwarze wandte sich an Moritz Rappaport. „Mein Lieber, vor knapp fünf Jahren kam Ihr Buch ‚Sozialismus, Revolution und Judenfrage‘ heraus. Wie sehen Sie das mit den Rechten und den Linken in diesem Stück von Ernst Toller?“
„Hmm, da sehe ich beide Seiten irgendwie nicht weit voneinander. Dieser Hinkemann spricht Folgendes im Stück zu seinen sozialistischen Genossen und Anarchistenfreunden: ‚Ihr Toren. Was wisst ihr von der Qual einer armseligen Kreatur? Wie müsst ihr anders werden, um eine neue Gesellschaft zu bauen. Ihr bekämpft den Bourgeois und seid aufgebläht von seinem Dünkel, seiner Selbstgerechtigkeit, seiner Herzenträgheit. Einer hasst den anderen, weil er in einer anderen Parteifestung steht, auf ein anderes Programm schwört. Keiner hat Vertrauen zum anderen. Worte habt ihr, schöne Worte vom ewigen Glück und ihr seht eure Grenzen nicht. Ihr redet Theorie und lebt bürgerlich. Dazwischen gellt soziale Anklage, heftig und maßlos, eingepeitscht von gedrillten Parteirednern und Dogmennachbetern.‘ Und was antworten seine Genossen darauf? Mit Phrasen aus dem materialistischen Katechismus. ‚Die Schandwelt, in der wir leben, ist schuld.‘ Dagegen lässt Toller seinen Hinkemann verzweifelt aufbäumen, indem er ihn sagen lässt, dass diese jetzige Zeit keine Seele habe und er kein Geschlecht. Toller hat aber für mich ein Problem: Er kennt das eigentliche Proletariat, wie es lebt, nicht wirklich.“13
Verwirrung am Tisch des Schabbat. Dann ergriff Moses Horowitz, genannt Moritz, Rappaport zugewandt, das Wort. „Aber dann verstehe ich die Krawallorgien dieses rechten Mobs nicht, mein lieber Rappaport.“
Dieser erwiderte: „Ja, es war ein wohl vorbereiteter widerwärtiger Theaterskandal. So viel weiß man inzwischen. Im Vorfeld wurden massenweise Karten aufgekauft und kostenlos an ‚Nationalgesinnte und Hitlerjungen‘ verteilt. Ich höre schon die Deutschnationalen von Kulturschande und Entehrung des Schauspielhauses reden.
Was Toller eigentlich rechtmäßig und in meinen Augen wertvolles tat, war die Nutzung der Bühne für seine Anklage gegen Kriegstreiberei, ideologische Borniertheit und Gefühlskälte. Die allzu bittere Ironie störte da aus meiner Sicht. Bezeichnend komisch war allerdings, und da komme ich auf ihre Frage zurück, lieber Horowitz, dass diese randalierenden Nationalisten gerade dann ihre sogenannte patriotische Entrüstung im Theater mit ‚Pfui-Rufen rausbrüllten, als auf der Bühne der Hinkemann die Engstirnigkeit und ideologische Verbohrtheit seiner linken Genossen anklagte.14
Diese unwissenden Krawalltölpel kamen mit vorgefertigter Meinung ins Theater und wollten ihre Auffassungen allen anderen überstülpen. Dass zudem ein Besucher aus Berlin im 1. Rang ob des Tumults einen Herzschlag erlitt und zu Tode kam, störte diesen Mob nicht. Welch Tragödie – auf der Bühne, im Zuschauerrund und hier in der Stadt.“
Mit einem Dank an Sarah Horowitz und einem „Schabbat Schalom“ verabschiedete man sich an diesem Abend des 18. Januar 1924 und ging wohl eingemummelt in die Kälte der Nacht dem jeweiligen Zuhause entgegen.
Anmerkungen des Autors
1 Der gebürtige Österreicher Moritz Rappaport war von der Ausbildung her Jurist und Schriftsteller. Geboren am 16. April 1881 in Wien, gestorben am 11. Juli 1939 in Wien. Laut Adressbuch der Stadt Dresden von 1924 wohnte er zu dieser Zeit auf der Tieckstraße 27. Nicht zu verwechseln mit dem Österreicher Arzt und Schriftsteller Moritz Rappaport, der von 1808 bis 1880 lebte.
2 Der Schabbat ist im Judentum der siebte Wochentag, ein Ruhetag, an dem keine Arbeit verrichtet werden soll.
3 Gemeint ist die von Gottfried Semper zwischen 1838 und 1840 erbaute Synagoge am Hasenberg.
4 Tapisserie-Waren sind Wandteppiche, gestickte Tischdecken, Sofakissen, Stuhlbezüge und Ähnliches
5 Die Uraufführung von Ernst Tollers „Hinkemann“ fand am 19. September 1923 am Alten Theater Leipzig unter der Regie von Alwin Kronacher statt. Es gab mindestens 25 Vorstellungen ohne Probleme und rechter Proteste.
6 Dresdner Nachrichten vom 18. Januar 1924
7 Dresdner Volkszeitung vom 18. und 19. Januar 1924
8 Schabbat-Rezepte in der Wikipedia
9 Ernst Toller, jüdischer deutscher Schriftsteller und Dramatiker; Revolutionär und Politiker; geboren am 1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen, gestorben am 22.5.1939 in New York (Selbsttötung)
10 Aus einer Anfrage des Abgeordneten Ziller (Deutschnationale Volkspartei) in der Sitzung des Sächsischen Landtages am 18. Januar 1924. Er war selbst im Theater und hatte seine „Anfrage“ bereits am Schluss der Aufführung am 17.1.1924 fertig. (lt. Dresdner Neueste Nachrichten vom 22. Januar 1924)
12 Dresdner Neuesten Nachrichten vom 19. Januar 1924
13 Dresdner Nachrichten vom 22. Januar 1924
14 Aus einem Schreiben des Alldeutschen Verbandes und weiterer 23 Vereine an die Intendanz der Staatstheater Dresden (Dresdner Neueste Nachrichten vom 22. Januar 1924) mit der Forderung nach Absetzung des Stücks von Ernst Toller „Hinkemann“. Am 19.1.1924 beschloss die Verwaltung der Staatstheater Dresden die Absetzung des Stücks vom Spielplan zum „Schutz der Schauspieler“. Eine weitere Vorstellung fand nicht statt. Dies geschah in Abstimmung mit dem Ministerium für Volksbildung des Freistaates Sachsen. (Dresdner Neueste Nachrichten vom 24. Januar 1924)
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.