Die Viererbande aus der Alaunstraße, die 18-jährigen Walter, Franz, Gustav und Friedrich, zogen am Faschingsdienstag im Februar 1912 in Richtung Albertplatz.
Einheitlich mit Bettlaken umhüllt, traten sie als die unseligen Geister der Neustadt auf. Das Wetter war mild, die Sonne schien. Unter dem Kostüm hatten sie sich warm angezogen, womit sie die strikten Anweisungen ihrer Mütter befolgten. Der Winter war noch nicht zu Ende und gegen Abend würde es kühler werden.
Die Schüler des Neustädter Gymnasiums an der Holzhofgasse hatten auch ein paar Märker und Friedrich vier Flachmänner aus der Kneipe seines Vaters einstecken. Gustav verteilte Kekse aus dem familiären Laden und Franz hatte ein paar Zigaretten aus der Schachtel seines alten Herrn entwendet. Alle vier hatten Pritschen1 in der Hand, die traditionell zum Karneval dazugehörten. Damit würden sie andere Leute im Spaß leicht piesacken.
Warten auf den Festzug
So für den bevorstehenden Nachmittag ausgerüstet erreichten sie den Eingang zur Hauptstraße. Aus der König-Albert-Straße hörte man schon die Kapellen des Umzuges, erstmals organisiert von den Studenten der Königlichen Kunstakademie und der Technischen Hochschule2. Die vier Freunde stellten sich noch rechtzeitig an der Katholischen Pfarrkirche St. Franciscus auf. Es dauerte nicht lange und viele Menschen säumten die Hauptstraße. Auffallend viele Frauen waren dabei. Die allermeisten hatten eine Art der Verkleidung oder zumindest einen bunten Hut auf. In der Residenz war traditionell der Faschingsdienstag der Höhepunkt des Treibens. Die Verkäuferinnen und Verkäufer in den Geschäften wandelten sich zu Clowns, Prinzessinnen, Putzfrauen oder Cowboys.
Die Phantasie der Studenten
An der Spitze des Umzugs präsentierte sich eine Blaskapelle. Dahinter marschierten 6 mürrisch dreinschauende Ehrenjungfrauen. Trotzdem heftig umjubelt. Denn allesamt waren männliche Studenten mit Stoppelbart und ausgestopften Busen. Als Gast der Veranstalter fuhr in einer Kutsche der Prinz des Münchner Karnevals, Seine Tollität Prinz Eugen, gleich dahinter, begleitet vom Dresdner Prinz Karneval. Originell fanden die Zuschauer auch eine Kongo-Riesenschlange, in der sich 25 Studenten einnähen ließen und die weiteren fantasievoll gestalteten Umzugswagen. Darunter auch die Haremsdamen aus Marokko sowie ein Narrenschiff mit Pierrot und Colombine.3
Immer wieder wurden Papierschlangen und Konfetti geworfen. Die Pritschen klapperten. Jede Attraktion wurde bewundert, bestaunt und umjubelt. Und so zog der Zug durch die Hauptstraße, über die Augustusbrücke und vor dem Georgentor nach links in Richtung Neumarkt. Und die vier Freunde zogen mit.
Majestät waren mit dabei
Dass König Friedrich August III. ein recht volkstümlicher Monarch, der einem Späßchen nicht abgeneigt war und sich gern mit seinen Untertanen unterhielt, war bekannt. Dafür liebten sie ihn, außer natürlich die Sozialdemokraten. Schon am Rosenmontag mischte er sich in Uniform mit Pickelhaube und ganz ohne Begleitung unter die Feiernden auf dem Altmarkt. Die Dresdner Bürger ließen ihn ohne Aufdringlichkeiten gewähren. Majestät amüsierten sich köstlich, war aus dem Schloss zu erfahren. Auch manchen Klatsch mit den Pritschen von kleinen Jungen nahm er nicht übel.3
An diesem Faschingsdienstag aber fuhr er in einer offenen Kutsche mit seinen Kindern und seiner Schwester, Prinzessin Mathilde vom Neumarkt kommend über die Augustusstraße Richtung Schloss. Man wollte das Treiben der Dresdner bestaunen. Am Georgentor beabsichtigte er dann aus dem Fenster den Umzug zu sehen.
Das Malheur
Zumindest wollte er das. Durch die Tausenden Zuschauer war ein Durchkommen fast unmöglich. An der Ecke von Töpferstraße und Augustusstraße ging dann nichts mehr. Die Königliche Apanage steckte fest. Darauf verließ der König mit seinen Kindern die Kutsche und wollte zu Fuß gehen. Keine gute Idee. Majestät waren umringt von seinen Untertanen.
Aus dem Fenster im zweiten Stock der Töpferstraße 1 schaute der Tabakgroßhändler Martin Hohlfeld hinunter und sah das Dilemma. Mit seinen Söhnen und zwei Bediensteten eilte er auf die Straße, kämpfte sich zum König und seinen Kindern durch und lud sie zu sich in die Wohnung ein, was diese gern annahmen.
Oben angekommen, kredenzte die Herrin des Hauses den Damen und kleineren Kindern Kakao und seiner Majestät und dem Kronprinzen jeweils eine Flasche Bier. Dazu gab es die am Faschingsdienstag obligatorischen Pfannkuchen. Wann hat man schon einen leibhaftigen König zu Hause. Und geschäftlich könne es keineswegs schaden. Amüsiert schauten dann alle dem Umzug zu.
Aber das bekamen unsere Viererbande nicht mit, denn sie gingen dem Zug hinterher.
Ein unschönes Abendspektakel
Nach dem Umzug stürmten die Zuschauer in jedes Café, in jedes Restaurant und in jede Kneipe. In kürzester Zeit war alles überfüllt und die Wirte machten, wie schon am Faschingssonntag und Rosenmontag die Geschäfte des Jahres. Wer keinen Platz fand, vergnügte sich auf dem Alt- und dem Neumarkt, der König-Johann-, der Wilsdruffer, See- und Schloßstraße. Bei hereinbrechender Dunkelheit trieb sich das Narrenvolk auch auf Post- und Pirnaischen Platz und in der Prager Straße herum.
Mit zunehmendem Alkohol im Blut wurden, wie an den vorangegangenen Abenden und Nächten, aus den harmlos-spaßigen Schlägen mit den Pritschen recht derbe Duelle, die manche blauen Flecke und blutige Nasen hinterließen. Manches Kostüm hing als Fetzen an seinen Trägern. Viele Rücken und Schultern brannten und schmerzten. Selbst in den Straßenbahnen setzten sich die Prügelorgien fort. Die Polizei schritt nur sehr zurückhaltend ein. Und das brave Bürgertum flüchtete ohnehin in die Ballsäle.
Aber unsere Pennäler, besonders Gustav und Friedrich, aus der Neustadt stürzten sich in das Getümmel der Pritschenschlacht und feierten bis nach Mitternacht mit anderen Burschen diese Orgie der Gewalt, die auch vor jungen Damen nicht Halt machten.3
Auf Platzsuche im Ratskeller
Walter und Franz setzten sich rechtzeitig am Altmarkt ab und wollten den Abend im Ratskeller des Neuen Rathauses ausklingen lassen. Walters Vater, Geigenbauer von Beruf, steckte ihm 10 Mark zu. Aber sie kamen nicht rein. Mit den unterschiedlichsten Tricks versuchten sich Leute aus den höheren Kreisen Einlass zu verschaffen. Wer saß, der saß, stets von der stummen Aufforderung und finsteren Blicken beäugt, doch endlich zu zahlen und zu verschwinden. Das funktionierte nicht und frustriert verließ man, zu Freude der anderen Wartenden, das Lokal.
Der Portier-Cerberus4 am Eingang hatte kein Erbarmen. Da half auch die Drohung nicht, man werde den Ratskeller künftig boykottieren, den sauren Wein könne der Wirt selber saufen. Andere kamen staatstragend und familiär. Man habe dienstlich hier zu tun oder man sei der Schwippgroßschwager eines Stadtrates und habe mit dem Herrn Oberbürgermeister schon einmal in der Straßenbahn geplaudert. Es half nichts. Cerberus war stand- und argumentationsfest.3 Und so zogen auch Walter und Franz ab in Richtung heimatlichem Bett. Geld gespart. Morgen früh, am Aschermittwoch, gings leider wieder aufs Gymnasium.
Anmerkungen des Autors
1 Die Pritsche oder Klatsche ist ein ca. fünfhundert Jahre altes scherzhaftes Schlag- und Züchtigungsinstrument des Pritschenmeisters aus Holz oder Pappe, das auch bei der Kasperlefigur und bei den Narren im Karneval Verwendung findet.
2 siehe Dresdner Nachrichten vom 22. Februar 1912
3 siehe Dresdner Nachrichten vom 21. Februar 1912
4 Höllenhund am Eingang zur Unterwelt in der griechischen Mythologie. Er passt auf, dass kein Lebender rein- und kein Toter rauskommt. Im übertragenem Sinne ein strenger grimmiger Pförtner oder Türsteher oder eine Chefsekretärin.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.