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Trude am Fenster

„Hermine. Hermiiiiiine. Herrrmine!“ Die so Gerufene wollte die penetrant Rufende überhören. Aber deren lautes Organ ließ alle in diesem Abschnitt der Louisenstraße an diesem Vormittag im Februar 1924 ihren Geschäften nachgehenden Bewohner abrupt innehalten. Wohl auch in der Neugier, wer sich hinter der Gerufenen verbergen möge.

Louisenstraße Ecke Markgrafenstraße (heute Rothenburger Straße) mit Albert Scholtz' Restaurant
Louisenstraße Ecke Markgrafenstraße (heute Rothenburger Straße) mit Albert Scholtz‘ Restaurant „Zum Markgraf“ – zeitgenössische Postkarte

Hermine Sperling, Witwe aus der Louise Nr. 751 verdrehte genervt die Augen. Da die Ruferin, Trude Schleinitz, die sich am Fenster in Parterre der Louise Nr. 59 bequem gemacht hatte, nicht aufhören würde, blieb besagter Hermine nichts anderes übrig, als die Straße zu überqueren und auf das offene Fenster zuzugehen.

Mit ausgebreiteten Armen und einem gekünsteltem Lächeln im Gesicht näherte sie sich der Ruferin, deren fleischige Unterarme auf einem Brokatkissen auf der Fensterbank ruhten, überstülpt von einem riesigen Busen, darauf lagerte ein Doppelkinn. Darüber grinste ein roter Mund innerhalb eines von Locken umrahmten Vollmondgesichtes. Damit war auch die Neugier der Passanten befriedigt.

„Mein liebes Trudchen. Ich war so in Gedanken, dass ich dich gar nicht bemerkt habe.“

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„Hermine, du falsche Schlange. Gib zu, du wolltest dich vorbei mogeln.“

Dass das bei der barocken Walküre, dem „Tageblatt der Louisenstraße“ und des selbsternannten Cerberus der Gegend nicht funktionieren würde, war Hermine wohl bewusst. Schuldigkeit vortäuschend, seufzte sie. „Erwischt. Was gibt es denn so dringendes?“

„Ach Herminchen, ich bin ganz unglücklich.“

Freche Jungs

Der bedrückende Gesichtsausdruck wandelte sich aber sofort in Strenge und mit ihm wurde ihre Sprache härter. „Stell dir vor, ich kam heute Morgen beschwingt und gut gelaunt auf die Straße, als mich doch so ein halbwüchsiger Rotzbengel mit seinem Fahrrad fast umgebracht hätte. Aber geistesgegenwärtig konnte ich ihn am Gepäckträger erwischen. Bei dem plötzlichen Ruck flog er über den Lenker. Mit meiner Tasche habe ich dem aber eine übergezogen.“

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„Oh Gott, warst du verletzt?“

„Quatsch. Aber dem Bengel hab ichs gegeben. Als der mir mit seinem Vater drohte, gabs gleich noch eins mit der Handtasche hinterher. Keine Achtung mehr vor ehrbaren Damen. Der Hauptwachtmeister Domaschke von der Wohlfahrtspolizei2 schräg gegenüber sah das, grinste nur und verschwand im Revier.“

Das Los der Kriegswitwen

Trude war seit dem Großen Krieg 1914/18 Witwe, wie so viele Frauen hier im Viertel. Mit dem Geschäft ihres Mannes, einem Warenladen für Müllereibedarf, schlug sie sich mehr schlecht als recht durch die unseligen Zeiten. Sagte sie jedenfalls immer. Vielleicht auch, um nicht angebettelt zu werden. Kinder hatte ihr der liebe Gott nicht gegönnt oder ihr Gatte nicht gekonnt. Wie dem auch sei. Sie war jedenfalls froh, dass sie sich selbst redlich ernähren konnte und keine weiteren Mäuler zu stopfen hatte. Schlimmer waren die Frauen dran, die neben ihren Kindern noch einen körperlich oder geistig lädierten Kriegsversehrten zu Hause hatten.

Louisenstraße Ecke Kamenzer Straße und Martin-Luther-Straße. Postkarte um 1900
Louisenstraße Ecke Kamenzer Straße und Martin-Luther-Straße. Postkarte um 1900

„Schaff dir doch einen gut situierten Herrn an, heirate ihn und dann hättest du ausgesorgt“, meinte Hermine spitz und rückte ihre Kappe zurecht.

„Hast du noch alle Glocken im Turm, du androgynes Flachbrett. Warum soll ich mir einen Kerl aufhalsen, der zwar arbeitet, falls er Arbeit hat, dann den halben Lohn im ‚Markgrafen‘3 versäuft und sich zuhause von vorn bis hinten bedienen lässt? Und das alles nur wegen dem bisschen Bett? Neee.“

Geheime Wünsche

Und dann schob sich der Busen vom Trudchen runter von den fleischigen Unterarmen auf das Fenstersims und drohte nach unten zu plumpsen. Aber er war noch gut mit dem restlichen Körper verbunden. Das Doppelkinn löste sich vom Busen und bewies, dass es mit selbigem nicht in direkter Beziehung stand.

„Herminchen“, flüsterte das Trudchen und winkte sie zu sich heran, „ich sag’s dir nur unter dem Mantel der Verschwiegenheit. Ich hab schon dann und wann eine Wärmflasche zu Gast. Mmm.“

Dann schob sich der beängstigend über der Klippe des Fenstersimses schwebende Busen wieder in die Ausgangsstellung auf den fleischigen Unterarmen zurück, von oben mit dem Doppelkinn gedeckelt. Darauf der lockenumwobene Vollmondkopf mit dem roten Mund.

Ein göttliche Erscheinung

Plötzlich wurde Trude still und blickte nach links. Dort schlenderte der junge Herr Kammerjäger Wegehaupt, dessen Geschäft weiter unten in der Louise Nr. 62 lag, heran. Er war eine Erscheinung: Brauner Anzug, das Jackett bis zum Oberschenkel, die Hosen oben bequem und unten schmal, oberhalb des Knöchels im Hochwasser endend, spitze Halbschuhe, weiße Socken, gestreiftes Hemd und breiter mehrfarbiger Schlips. Den Kopf zierte eine braune Schirmmütze, unter der seine blonden Locken hervorlugten.

Zeitgenössische Anzeige für den Kammerjäger Wegehaupt in der Lokalpresse
Zeitgenössische Anzeige für den Kammerjäger Wegehaupt in der Lokalpresse

Hermine und Trude standen die Münder offen, was eine Seltenheit war. Herr Wegehaupt war sich seiner Wirkung auf die Damenwelt sehr bewusst. Mit zwei Fingern an der Mütze, einem frechen Grinsen und einem Zwinkern grüßte er beide Damen. Trude verschluckte sich fast und konnte ein Rotanlaufen ihres Gesichts nebst Hustenanfall gerade noch verhindern.

„Was für eine Wärmflasche. Die würde ich in einer eiskalten Nacht nicht vor die Tür legen.“

„Trudchen! Um Gottes Willen. Was würde da unser Herr Pastor sagen bei so vielen sündigen Gedanken.“

„Dumme Kuh. Ich möchte nicht wissen, welche Gedanken unserem Herrn Pastor während des Gottesdienstes im Anblick der vor ihm sitzenden Gemeinde kommen. Ein bisschen Sünde hat noch nie geschadet.“

„Wenn du meinst. Ich muss jetzt weiter zum Bäcker Wenzel. Schönen Tag noch, Trudchen.“

Und das Trudchen hatte schon sein nächstes Opfer im Blick, die Witwe Müller aus der Louise 56.

Anmerkungen des Autors

1 Siehe Historische Adressbücher Sachsen.
2 Behörde der Stadt Dresden, die seit 1853 existierte. Sie diente der Durchsetzung der Stadtinteressen auf der Basis der Gemeindeordnung und der Beschlüsse des Stadtrates. Ist eng mit dem jeweiligen Wohngebiet verbunden. Hatte Aufgaben im Meldewesen, in der Gesundheits- und Armenpflege, zum Straßenverkehr, Impf- und Bestattungswesen zu realisieren. Später kamen viele Aufgaben in andere Ämter, wie Sozial-, Gesundheits-, Markt- und Einwohnermeldeamt, zur Friedhofsverwaltung oder wurden privatisiert. Das heutige Ordnungsamt ist ein Nachfolger dieser Behörde.
3 Albert Scholtz‘ Restaurant „Zum Markgraf“ befand sich an der Ecke Louisen-, Markgrafenstraße (heute Rothenburger Straße), an der Adresse gibt es seit ein paar Jahren das Modelädchen Peccato.


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.

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