Als Arthur Goldammer das Restaurant „Eichengarten“ an diesem fast schon frühlingshaften 29. Februar 1924 betrat, war die Luft innen zum Schneiden. Zigarrenqualm vermischte sich mit billigem Zigarettenmief und dampfenden Tabaksaromen. Eine Kakophonie aus Gesprächsfetzen schuf an diesem späten Freitagnachmittag eine wabernde Melodie, die, so Goldammers Meinung, der Schönbergschen 12-Ton-Musik1 in Nichts nachstand. Handwedelnd bewegte sich der Privatdetektiv nach rechts zu einem Tisch, an dem ein einzelner Herr grübelnd in sein Bierglas blickte.
„Egon, sei gegrüßt. Du schaust aus, als hätte dir ein winterlicher Hagelsturm deine Druckblätter besten Büttenpapiers auf der Leine zerrissen.“ Besagter Egon Klemm, seines Zeichens Buchdrucker bei Helbig und Sellier auf der Markgrafenstraße 362, schaute auf, winkte ab und konnte über den Scherz des Detektivs nur ein müdes Grinsen hervorbringen. Derweil kam der Wirt Josef Blatterspiel mit dem Gedeck, bestehend aus einem Glas Bier und einem Klaren, für Arthur und stellte es vor ihm hin. „Der Egon sitzt schon seit einer halben Stunde so bedeppert da“, sagte der Wirt zu ihm.
Kein Geschrei in häuslicher Ruhe
Goldammer kippte den Klaren hinter, nahm einen kräftigen Schluck Bier. Der kleine Rülpser ging im Stimmengewirr der Gaststube unter. „Nun mal raus mit der Sprache. Was ist los? Ich vermute, es gab Krach zu Hause.“ Der Detektiv kannte sich in den Gesichtern der Leute aus und vermutete richtig.
Egon seufzte tief. „Ach Arthur. Du hast es gut. Kein Weib zetert bei dir Zuhause, kein Geschrei stört deine häusliche Ruhe. Du bist der wohl glücklichste Mensch, den ich kenne.“
Arthur lachte. „In dieser Hinsicht hast du wohl Recht. Aber dafür ärgere ich mich mit zahlungsunwilligen älteren Ehemännern herum, die nach handfesten Beweisen für die Untreue ihrer missliebigen Gattinnen suchen, damit sie sich ihrer sehr viel jüngeren neuen Gespielinnen zuwenden können und ich diese Beweise nicht finde. Oder es geht um Erbstreitigkeiten unter Geschwistern, wo die eine dem anderen den Dreck unter dem Fingernagel nicht gönnt. Und hin und wieder träume auch ich von einer schönen Maid neben mir und beneide dich. Aber nun zu dir. Lass raus, was immer es ist und die Welt sieht bald wieder etwas besser aus.“
Egon seufzte wieder. „Ach Arthur…“
Fortsetzungsroman in der Lokalzeitung
„Ja Egon, das hatten wir schon. Jetzt mal Klarheit. … Apropos klar. Josef, bring uns bitte zwei Klare.“ Als der Wirt diese brachte und beide tranken, lockerte sich die trübe Stimmung bei Egon etwas.
„Mein Problem ist folgendes. Seit Monaten liegen wir, also ich und meine Frieda, im Streit wegen den Fortsetzungsromanen in den ‚Dresdner Nachrichten‘ (DN). Wenn die Zeitung kommt, schnappt sich meine Frau diese und ich und mein Großer, der Franz, können sie kaum noch lesen. Da der auch bei Helbig und Sellier auf der Markgrafenstraße das Buchdruckerhandwerk lernt, lesen wir die Zeitung tags darauf oft in der Pause. Und ab und an vergessen wir auch mal, die Zeitung wieder mit nach Hause zu bringen.“3
„Ahh. Ich ahne was nun kommt.“
„Bis zum Weltkrieg5 lag der DN immer eine Extrabeilage bei mit allerhand Frauenkram, wo auch der Roman enthalten war. Aber danach gab es keine Beilage mehr und der Roman war täglich auf irgendwelchen Seiten gedruckt.“
„Ja gut, Egon“, erwiderte der Detektiv. „Das ist doch auch kein Problem. Da wartest du halt, bis deine holde Frieda den Fortsetzungsteil gelesen hat.“
Ausschneide-Service
“Das ist aber gerade das Problem. Weil wir, also mein Sohn Franz und ich, immer mal wieder die Zeitung auf Arbeit vergessen hatten, schneidet nun meine holde Frieda seit einigen Wochen den Romantext heraus. Und wenn ich abends nach Hause komme, kann ich die Seite mit ‚Verschiedenes‘ nicht mehr lesen. Und das macht mich jedesmal wütend. Ganz wütend! Extrem ganz wütend!“ Dabei schlug er mit dem Bierglas so intensiv auf den Tisch, dass das Bier heraus schwappte.
„Nun mal halblang, lieber Egon. Da kann man sich doch einigen. Was will sie denn mit den ausgeschnittenen Texten?
„Habe ich sie auch gefragt. Da hättest du Frieda mal hören sollen. Wie eine Furie ist sie über mich mit wüsten Beschimpfungen hergefallen. Sie sammle nicht nur für sich, sondern auch für ihre Freundinnen.“
„Aha. Du hast sie also, mal rechtlich gesehen, eines lebenswichtigen Anteils an eurer Zeitung beraubt. Und nicht nur ihr hast du geschadet, sondern auch noch ihren Freundinnen. Du Barbar!“, grinste Arthur Goldammer.
Egon Klemm verstand die Welt nicht mehr. „Aber ich bin doch der Abonnent der Zeitung und mir steht deshalb das Vorrecht der ersten Lesung zu“, rief er in höchster Erregtheit, so dass sich die Herren an den Nachbartischen amüsiert umblickten.
„Siehst du, mein Egon“, antwortete Arthur belustigt und machte eine Kreisbewegung mit Daumen und Zeigefinger, „das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären.“4
„Hä, was schwatzt du da so geschwollen daher?“
„Ach Egon, ist nur ein Zitat von Schiller. Nun beruhige dich mal wieder. Linderung deiner Schmerzen naht. Irgendwie hat wohl der Schutzengel der Zeitungsleser ein gutes Wort bei den Herausgebern der Zeitung eingelegt. Denn ab dem 1. März, also ab morgen, gibt es bei den ‚Dresdner Nachrichten‘ wieder eine Morgen- und eine Abendausgabe. Der Fortsetzungsroman soll nun nur noch in der Abendausgabe erscheinen. Hat mir ein bekannter Redakteur dieses Blattes ins Ohr geflüstert. Dann brauchst du nicht mehr auf ‚Verschiedenes‘ verzichten.“3
„Wirklich? Das wäre toll. Darauf müssen wir einen Trinken und machte den typischen Bestellkreisel. Das Ende der Kabale mit seiner Holden muss gefeiert werden.“
Anmerkungen des Autors
1 Arnold Schönberg (1874 bis 1951), österreichischer Komponist, begründete 1921 die Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen (Zwölftontechnik). Ein Jahr später gründete er die Internationale Gesellschaft für Neue Musik.
2 heute: Rothenburger Straße in der Dresdner Neustadt
3 Dresdner Nachrichten vom 25. Februar 1924
4 Zitat aus: Friedrich Schiller; Wallenstein, Zweiter Teil ‚Die Piccolomini‘; fünfter Aufzug, erster Auftritt, Octavio
5 gemeint ist der Erste Weltkrieg 1914 bis 1918
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.
Das Restaurant „Eichen-Garten“ befand sich auf der Oppelstr. 54 (seit 1956 Rudolf-Leonhard-Straße) und das Haus sieht heute so aus.