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75 Jahre Friedenskirche

Die Gang von der Alaunstraße

Mit großem Hallo begrüßten Walter, Franz und Gustav ihren Kameraden Friedrich, als dieser den Gastraum des Cafés zum Albertheater in der Alaunstraße 2 betrat. In der Uniform des Einjährig-Freiwilligen1 gekleidet und von den anderen Anwesenden im Café an diesem Nachmittag des 10. März 1914 ob seiner feschen Erscheinung bewundert, setzte er sich grinsend an den Tisch seiner schon länger nicht mehr gesehenen Freunde.

Café am Alberttheater, Alaunstraße 2, Zeitgenössische Postkarte
Café am Alberttheater, Alaunstraße 2, Zeitgenössische Postkarte

Wirtin Helene Graf eilte mit einem Bier herbei und streichelte ihm liebevoll über den Kopf. „Hier, mein Fritzchen. Schön, dich wiederzusehen. Dieses Bier geht aufs Haus.“

Schon grölten die restlichen Mitglieder der Gang von der Alaunstraße2 und frotzelten Friedrich an. „Ja, mein Fritzilein“, rief Walter und konnte vor Lachen nicht mehr an sich halten. Franz sprang auf und knuddelte ihn, während Gustav ihm eine Kusshand zuwarf, so dass er ganz verlegen wurde.

„Ja, lasst es gut sein“, erwiderte Friedrich. „Ich freue mich auch, euch zu sehen.“ Und um das Gespräch von sich zu lenken, fragte er, was seine Freunde inzwischen so trieben. Gustav winkte der Wirtin zu und gab ihr das Zeichen für eine Runde Bier.

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Blitzumzug

Auf dem Weg des Erwachsenwerdens

Walter Hannig aus der Alaun 5 trat in die Fußstapfen seines Vaters und lernte in Klingenthal den Beruf des Geigenbauers. Sein Ziel: später die Werkstatt seines Vaters übernehmen. Er war bodenständig und wollte was solides zum Broterwerb. Zumal sein Vater den Familienbetrieb im Vogtland während der vergangenen friedlichen Jahrw zu einer ersten Blüte gebracht hatte.

Alaunstraße historisch
Alaunstraße historisch

Dass Franz Bölling aus der Alaunstraße 7 nach dem Abitur am Königlichen Gymnasium der Neustadt in der Holzhofgasse hoch hinaus wollte, war allen anderen aus der Clique klar. Architekt wollte er werden und schwärmte für klare Linien statt Verschnörkeltem im Bauen und war gegen diesen Mischmasch von alten Stilen. Er schaffte mit links die Aufnahmeprüfung an der Bauingenieurabteilung der Technischen Hochschule Dresden3, deren neue Gebäude erst 1913 nach den Entwürfen des Architekten Martin Dülfer in der Südvorstadt entstanden waren.

Dass Gustav Schubel unbedingt Lehrer werden wollte, verstanden seine Kumpels jedoch nicht. „Denke dran, wie wir die Lehrer immer wieder geärgert haben“, meinte Franz. „Erinnert ihr euch an unseren Direktor Haase, der immer betonte: ‚Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen und das Alter ehren‘.5 In der Pause hat Walter ihn nachgeäfft und uns mit einem Stock auf den Hintern dessen Lehre eingebläut.“ Alles lachte. Aber Gustav blieb bei seinem Wunsch und studiert nun die Pädagogik am Fletscherschen Seminar4 im neuen Gebäude an der Marienallee unweit der Kasernen der Albertstadt.

In der Albertstadt

Nun blickten Walter, Franz und Gustav auf Friedrich, der in seiner Grenadier-Uniform adrett am Tisch saß und nun seinerseits bei der Wirtin Helene eine Runde Bier bestellte. Er bewarb sich als einziger als Einjährig-Freiwilliger1 bei der Königlich-sächsischen Armee und sah seine Uniform als Symbol eines höheren Menschentums.1

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Als Sohn eines Gastwirts, also als Nachkomme eines Kleingewerbetreibenden aus niedrigem Stand, war er für eine direkte Offizierslaufbahn nicht geeignet. Aber sein Herz schlug fürs Militärische und insbesondere für Uniformen. Genommen wurde er dann nach ausgiebiger Musterung im 2. Grenadier-Regiment Nr. 101 in der Albertstadt. Seit dem 1. Oktober 1913 diente er dort.

Albertstadt, Kaserne 2, Grenadierregiment und Grenadierwachgebaeude - zeitgenössische Postkarte
Albertstadt, Kaserne 2, Grenadierregiment und Grenadierwachgebaeude – zeitgenössische Postkarte

Wurzel lagen im Kampf gegen Napoleon

1813 und 1814 brauchte der preußische Staat Soldaten für seinen Kampf gegen den französischen Usurpator. Und so wurden in den Landwehrverordnungen diese Freiwilligkeit gesetzlich geregelt. Nach den Befreiungskriegen dienten diese Freiwilligen nur ein Jahr. Daher diese Bezeichnung. Alle anderen Wehrpflichtigen mussten drei Jahre dienen.

Im Unterschied zu den Wehrpflichtigen der Unterschichten, Unteroffizieren und Offizieren mussten diese Freiwilligen bis zum Ersten Weltkrieg, da sie zwar auch niedrigen Standes waren, aber aus gutbürgerlichen und vermögenden Familien kamen, in Friedenszeiten selbst für ihre Unterbringung und Ausrüstung sorgen. Dafür wurden sie beim Studium oder in der Oberprima7 des Gymnasiums besser gestellt, indem ein Ausbildungsjahr erlassen wurde. Nach dem Abschluss waren sie nach einem Erlass von Kaiser Wilhelm II. Offiziere der Reserve. Dieser „Adel der Gesinnung“ löste vor allem dann im Ersten Weltkrieg den „Standesadel“ ab. Dieser Reserveoffizier wurde zum Bindeglied und zum ideologischen Ausgleich zwischen Bürgertum und Militärmonarchie. Finanziell mittellose Einjährige konnten bei guten Schulleistungen auf Staatskosten eingekleidet und verköstigt werden. Sie hießen dann „Königseinjährige“.1

Nun war Franz mit einer Runde dran und bestellte bei der Wirtin nicht nur Bier, sondern auch eine Runde Klare. 

Erinnerungen, die scheinbar weit zurück lagen

Walter kicherte. „Wenn ich uns so reden höre, dann quatschen wir schon wie die Alten. Dabei ist es keine zwei, drei Jahre her, da plusterten wir uns in unserer Unerfahrenheit auf wie die Herren der Welt, die alles wissen und können, die die Worte der Lehrer kritisch beäugten, obwohl wir, aus heutiger Sicht doch ziemlich doof waren. Und gesoffen haben wir auch wie die Alten.“6

„Mein Vater meinte“, so Gustav, „dass das das Los der Jugend sei. Er war auch nicht anders. Besserwisserisch, kritikresistent, Erkenntnisfrei.“

„Übrigens sind die Weiber nicht besser“, warf Franz ein. „Von wegen zurückhaltend, keusch und sittsam. Mein Vater, der Bürovorsteher bei Villeroy & Boch ist, klagt über die jungen Dinger in seinem Büro. Da grüßen nur die wenigsten freundlich beim ‚Guten Morgen‘ zurück und schauen ihm ins Gesicht. Die meisten dieser Damen nuscheln ein ‚Morg´n‘ vor sich hin. Und wenn du eine dieser Mädchen mal auf der Straße höflich anquatschst, weil sie dir gefällt, dann blickt sie dich an, als wärst du der Blödmann der Nation und dreht sich arrogant weg.“5

„Weiber. Kommt Jungs, trinken wir noch einen. Wer weiß, wann es wieder mal mit uns klappt“, rief Friedrich in die Runde und bestellte selbige.

Anmerkungen des Autors

1 Siehe Lothar Mertens „Das Privileg des Einjährig-Freiwilligen Militärdienstes im Kaiserreich und seine gesellschaftliche Bedeutung“ in Deist: Militär- und Innenpolitik im Weltkrieg 1914 – 18, Düsseldorf 1970
2 Siehe Neustadt-Geflüster vom 8. Februar 2024 „Faschingsumzug Anno 1912
3 Siehe Wikipedia: Technische Universität Dresden, Historisches
4 Siehe Wikipedia: Freiherrlich von Fletschersches Lehrerseminar
5 Siehe Dresdner Nachrichten vom 12. Februar 1914
6 Siehe Dresdner Nachrichten vom 4. Februar 1914
7 letzte Klasse am Gymnasium


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.

2 Kommentare

  1. Eigentlich nur eine Frage. Die Jungs treffen sich 1914. Weiter unten ist dann von der Geigenbauerfamilie, die unter anderen den Betrieb durch die Inflation gebracht hat. Die Inflation war doch erst nach dem 1.Weltkrieg oder? Und welcher Krieg ist gemeint?

  2. Hallo Rolf, danke für den Hinweis. Herr Kulb gibt sich zerknirscht und nimmt alle Schuld auf sich und bittet um Entschuldigung. In der Entstehung der Geschichte war noch nicht ganz klar, ob sie 1914 oder 1924 spielen soll. Wir passen den Geigenbauerabschnitt entsprechend an.

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