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Eine Widerspenstige im Gerichtssaal

„Frieda, schau dir nur dieses Flittchen an. So großkotzig wie die tut, kann die nur schuldig sein.“ Wilhelmina Just flüsterte diese Einschätzung ihrer Freundin Frieda Reichel kichernd ins Ohr. In Anbetracht fehlenden Kleingeldes konnten sich die beiden Damen vom Martin-Luther-Platz einen Theaterbesuch nicht leisten. Und so waren sie rechtzeitig an diesem verregneten Märztag des Jahres 1924 ins Amtsgericht auf der Hospitalstraße der Dresdner Neustadt1 gegangen, um einen Platz im Zuschauerbereich des einen oder anderen Gerichtssaales zu ergattern. Das taten sie des Öfteren. Es war meistens spannender als im Theater und dazu noch kostenlos. Zu Essen und zu Trinken hatten sie in ihren Handtaschen dabei.

Das ehemalige Amtsgericht in der Hospitalstraße 7, heute sind hier Teile des Justizministeriums angesiedelt. Zeitgenössische Postkarte
Das ehemalige Amtsgericht in der Hospitalstraße 7, heute sind hier Teile des Justizministeriums angesiedelt. Zeitgenössische Postkarte

Die Eröffnung der Verhandlung

Nachdem der Gerichtsdiener den ehrenwerten Amtsrichter, Geheimer Gerichtsrat Dr. Walter Knauer angekündigte hatte, erhoben sich die Angeklagten, Verteidiger und Staatsanwalt sowie die Zuschauer von ihren Plätzen. Staatsanwalt Dr. Breithaupt verlas die Anklageschrift, nach der der 24-jährige Angeklagte Paul Lippmann und seine Geliebte, die fünf Jahre ältere Martha Steinborn, geborene Ziesche, des schweren Einbruchs und Diebstahls in der Inneren Neustadt beschuldigt wurden.

„Wilhelmina, du hattest wieder mal den richtigen Riecher. Fünf Jahre älter als der Kerl ist das Luder. Das hier wird besser als eine Komödie im Alberttheater“, flüsterte Frieda und rieb sich genüsslich die Hände.

Derweil fuhr der Staatsanwalt fort. Der Trick der beiden soll es gewesen sein, sich an Betrunkene oder zumindest angeheiterte reich erscheinende männliche Personen heranzumachen, diese nach Hause zu geleiten und dann deren Wohnung auszurauben. Besonders scharf sollen sie auf wertvolle Uhren gewesen sein. Zudem soll es noch einen dritten Kumpanen gegeben haben, der aber noch nicht gefasst werden konnte.

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Daraufhin lachte die Angeklagte laut los, was dem Amtsrichter natürlich missfiel und er deren Verteidiger, den Rechtsanwalt Dr. Locke, ermahnte, seine Mandantin zur Ordnung zu rufen. Doch die ließ sich den Mund nicht verbieten.

„Herr Richter, falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, der Kaiser ist in Holland und wir haben eine Republik und ich rede hier, wenn ich will“, und blickte den Geheimen Gerichtsrat provozierend in die Augen.

Die vorlaute Angeklagte

„Angeklagte, falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, wir haben Gesetze. Ohne diese kommt auch diese Republik nicht aus. Und danach haben Sie erst zu reden, wenn ich Ihnen das Wort erteile oder Ihr Anwalt einen entsprechenden Antrag stellt.“ Und dann wurde er laut. „Haben Sie das verstanden?“

Rechtsanwalt Dr. Locke legte seiner Mandantin beruhigend seine rechte Hand auf ihren Unterarm.

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Dann fuhr der Staatsanwalt fort. Dieses Verbrechertrio soll sich auch in einem Hutgeschäft auf der Prager Straße als Scheinkäufer ausgegeben haben und die Ablenkung des Inhabers durch unmoralische, sittenlose Avancen der Martha Steinborn für den Diebstahl besonders teurer Hüte aus Italien und England genutzt zu haben.

Wilhelmina und Frieda bissen derweil in ihre Butterbrote und lauschten dem Wortwechsel zwischen Anklage und Verteidigung. Während Paul Lippmann brav auf die Frage des Richters, ob er schuldig im Sinne der Anklage sei, mit nein antwortete, konnte seine Geliebte Martha ihr Temperament nicht in Zaum halten. Paul grinste. Dafür liebte er sie.

„Dass was dieser Rechtsverdreher Schmalkopf oder so da behauptet, …“. „Der Herr Staatsanwalt heißt Dr. Breithaupt! Und ein Rechtsverdreher ist er nicht. Merken Sie sich das. Ich spreche Ihnen hiermit eine Verwarnung aus“, unterbrach der Amtsrichter mit bösem Blick die verbalen Auswürfe der Steinborn.

„Verzeihung Euer Hochwohlgeboren, der Herr Dr. Breitmaul redet hier falsches Zeugnis, oder wie das heißt. Jedenfalls lügt der wie gedruckt!“

„Angeklagte Steinborn, das reicht. Ich verfüge über sie wegen Beleidigung eine Haft von zwei Tagen. Wir nehmen protokollarisch zur Kenntnis, dass die beiden Angeklagten ihre Schuld im Sinne der Anklage bestreiten.“

Reden ist nicht nur Silber

Dann traten mehrere Zeugen auf, die die Angeklagten zweifelsfrei bei ihren Taten identifizieren konnten. Darunter war auch einer, mit dem Lippmann im Zuchthaus Waldheim in Untersuchungshaft saß. Der erzählte, dass besagter Angeklagte damit prahlte, wie einfach die Raubzüge des Trios durch die Innere Neustadt waren, was für Einfaltspinsel die reichen Bürger seien und dass man von den geklauten Gegenständen gut durch die Inflation gekommen sei. Natürlich nahm man auch die staatliche Arbeitslosenstütze mit. Kleinvieh mache schließlich auch Mist.

Friede grinste und meinte zu Wilhelmina, dass sowas typisch Mann sei. Sonst kriegen sie zu Hause kaum die Gusche auf, aber wenn es ans Prahlen über ihre Fähigkeiten und ans Versaufen der paar Kröten gehe, dann denken die nur von Mittag bis Zwölf.

Das Urteil

Für die Damen vom Martin-Luther-Platz war das Ergebnis klar, bevor der Richter das Urteil verkündete. Und so machten sie sich für den Heimgang bereit. Doch hatten sie nicht mit dem „unsichtbaren Dramaturgen“ dieser Gerichtsverhandlung gerechnet. Zunächst sprach der Amtsrichter Dr. Knauer das erwartbare Urteil. Lippmann bekam zwei Jahre und drei Monate Zuchthaus und sein Liebchen, die Steinborn, ein Jahr Gefängnis.2

Dresdner Nachrichten vom 18. März 1924
Dresdner Nachrichten vom 18. März 1924

Der dramatische Schlussakt

Als Martha Steinborn das hörte, lief sie rot an, sprang von ihrem Stuhl auf, schnappte sich das Tintenfass ihres Rechtsanwalts und warf es in Richtung des Hauptzeugen aus dem Zuchthaus Waldheim, der im Zuschauerteil des Saales saß. Sie traf aber nicht richtig. Das Glas zerschellte an einer Stuhllehne. Die Tinte verspritzte sich, wobei besagter Zeuge das meiste abbekam. Kreischend flohen die meist weiblichen Besucher und Martha Steinborn beschimpfte den Amtsrichter als Pfeife, Klassenfeind des arbeitenden Volkes und Sittenstrolch. Ihr Rechtsanwalt konnte sie nicht davon abhalten, die Bande zum inneren Gerichtsbereich zu überspringen. Zwei Polizisten, die herbeieilten, konnten sie kaum halten. Sie wehrte sich mit Fäusten und trat nach ihnen, beleidigte sie mit Titeln wie Scheißbullen und mancherlei unflätigen Wortschöpfungen. Erschrocken hielt sich Frieda die Ohren zu, ob dieser unerhörten Kloakensprache.

Erst als sich acht Wachmänner auf sie warfen, bekamen diese die wilde Martha in den Griff, fesselten sie und brachten sie, wobei sie ihrem Stimmorgan und ihrer vulgären Sprache alle Ehre gab, aus den Gerichtssaal.2

Draußen atmeten die beiden Freundinnen auf. Das war ein verrückter Tag, der im Alberttheater hätte nicht besser sein können. Frieda henkelte sich bei Wilhelmina ein. „Komm, meine Gutste. Jetzt haben wir uns einen Kaffee bei mir Zuhause redlich verdient.“

Anmerkungen des Autors

1 Inzwischen befindet sich das Amtsgericht auf der anderen Elbseite am Sachsenplatz. Das Gebäude an der Hospitalstraße wird vom Justizministerium genutzt.
2 Dresdner Nachrichten vom 18. März 1924


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.

3 Kommentare

  1. Vielen Dank Andreas, für den sehr freundlichen Hinweis, der sicherlich auch mit einem Ausrufungszeichen und ohne beleidigenden Unterton verstanden worden wäre. Ich habe den beiden mal die Großschreibung ausgetrieben.

Kommentare sind geschlossen.