Diesmal kam Adele Lampel, die Diva vom Alberttheater, nicht als letzte zum Kränzchen der Viererbande der selbsternannten Hautevolee der Dresdner Neustadt in ihr Stammcafé Narrenhäusel am Aufgang zur Augustusbrücke. Schuld daran war das Aprilwetter. Starker Wind, kühle 7 Grad und eine ungemütliche Nässe in der Luft1 verleideten ihr den gewohnten triumphalen Einzug ins Café und an den Tisch ihrer Freundinnen. An diesem Freitag des 4. April 1924 saß nur Schneidermeisterin Frieda Lempke am Tisch, die erstaunt diesen vorzeitigen, einer Diva nicht gerecht werdenden Auftritt der Adele mit offenem Mund quittierte.
Aprilstimmung beim Kränzchen
„Mach deine Gusche zu, Frieda, aber dieses unverschämte Wetter macht mich verrückt. Ich brauche sofort etwas zum Aufwärmen.“
Haus-Boy Erwin eilte rasch herbei und konnte gerade noch den Pelzmantel der Diva auffangen, den diese von der Schulter gleiten ließ. Und Oberkellner Franz nahm deren Bestellung an.
„Franzi, bringe mir einen Kognak. Aber einen guten. Willst du auch einen, liebste Frieda?“ Und da diese nicht gleich antwortete, wandte sich Adele wieder dem Ober zu. „Dazu noch mein geliebtes Kännchen Kaffee und eine Eierschecke.“
Inzwischen kamen auch die beiden anderen der Runde, Erna Schwuppke, die Hoteliersgattin von der Bautzener Straße und die Frau eines städtischen Beamten, Martha Kruska. Auch sie staunten über das vorzeitige Dasein von Adele.
Diese hielt sich nicht mit schnöden Erklärungen ihrer Vorzeitigkeit auf und wollte schnell zum Thema des Tages zu sprechen kommen. Wartete aber bis der Kellner Richard Kaffee und Kuchen sowie den Kognak der Diva brachte. Adele bestellte gleich eine Runde Sekt dazu. Ihre Aufgeregtheit musste ruhig gestellt werden.
Politik verleidet das Reisen
„Meine lieben Freundinnen,“ begann sie, nachdem sie den Kognak in einem Zuge austrank und vom Sekt nippte, „nun wird mir gleich wohler. Habt ihr das in der Zeitung gelesen? Diese Sozis in der Reichsregierung wollen doch tatsächlich das Reisen ins Ausland verbieten?“2
Martha Kruska legte ihre Hand beruhigend auf Adeles Unterarm. „Meine Liebe, die wollen es nicht verbieten, sondern nur erschweren, damit unsere wieder starke Rentenmark nicht im Ausland von den Reichen verschleudert wird.“
„Martha, das kommt aufs Gleiche raus“, erregte sich Adele. „Rückwirkend seit zwei Tagen darf ich, falls ein ausländisches Theater sich mit meinen hohen Künsten schmücken will, nur 10 englische Pfund oder umgerechnet 200 Gold- oder Rentenmark mitnehmen. Furchtbar. Gnädiger Weise lässt man sich herab, weitere 300 Mark mitzunehmen. Aber nicht in deutscher Währung, sondern in der jeweiligen Landeswährung. Davon kann kein Mensch existieren.“
„Mach mal halblang, Adele“, echauffierte sich Erna. „Zum einen habe ich zurzeit wenig Gelüste auf eine Auslandsreise. Zum zweiten würdest du an einem Theater in Wien oder Mailand oder Paris sicher nicht ohne Gage arbeiten.“
Reiche Deutsche in Italien
Frieda meinte, sie habe gelesen, dass die deutsche Botschaft in Rom auf das unwürdige Treiben der deutschen Lebemänner und deren Damen hinwies. Da das Leben in Italien billiger als bei uns sei, geben diese Tunichtgute das Geld mit vollen Händen aus. Sie saufen, fressen was nur reingeht, huren sich durch die römischen Betten und vergnügen sich in schmierigen Spelunken.
„Furchtbar“ rief Martha aus. „Unsere nun wieder harte Rentenmark wird so verschleudert. Da finde ich es richtig, dass man sich jetzt eine Unbedenklichkeitsbescheinigung vom Finanzamt, die zudem 500 Mark kostet, besorgen muss.“ Die Beamtengattin verschränkte unterstützend ihre Arme. Auch wenn Adele anderer Meinung war, wollte sie keine schlechte Stimmung am Kränzchentisch und schwieg in ungewohnter Weise.
Die Düfte der nahen Welt
Dafür eröffnete Erna Schwuppke ein anderes Thema, nachdem sie zuvor eine weitere Runde Sekt bestellt hatte.
„Meine Lieben, als ich heute Nachmittag über den Neustädter Markt hierher unterwegs war, kam mir eine Gruppe junger Männer entgegen.“
„Ahhh, wunderbar“, fuhr Adele lachend dazwischen. „Ich hoffe schön knackig. hättest sie doch gleich mit hierher bringen können.“
„Um Gottes Willen, liebe Adele. Es sei denn, du stehst auf übel riechende Mannstypen. Die stanken nämlich so, als hätten sie im Schweinetrog gebadet. Entweder arbeiteten sie in der städtischen Kanalisation oder in einem der Schlachthöfe im Ostragehege. Ich stand kurz vor einer Ohnmacht und wäre beinahe unter die Räder der Straßenbahn geraten.“
Mitleidig legte Frieda eine Hand auf Marthas rechten Unterarm. „Wie furchtbar, liebste Freundin. Dass sich die nicht mal nach getaner Arbeit waschen können. Ein paar Spritzer Parfüm würden auch helfen. Was für ein Elend in diesen Zeiten.“
Analyse der Parfümdüfte
„Meine Damen, bei Leuten mit extrem starken Körpergeruch hilft kein noch so starkes Parfüm. Die Stinker würden sogar selbst in Ohnmacht fallen, haben ein paar Gelehrte mal geschrieben. Übrigens fällt mir ein, dass ich in irgendeiner Zeitung gelesen habe, dass man am Parfümgeruch auch auf den Charakter einer Person schließen könne.“3 Damit erlangte Adele wieder die Aufmerksamkeit ihrer Freundinnen, was sie mit einem Schmunzeln und der Bestellung einer neuen Runde Sekt sichtlich genoss. Die kleine Pause erhöhte zudem die Neugier der anderen.
„Mit Parfüm kenne ich mich aus“, fuhr Adele fort. „Ich muss mich fast jeden Abend im Alberttheater vor den miesesten Gerüchen schützen. Ihr wisst gar nicht, was da so für Schweißdüfte und andere unerträgliche Körpergerüche auf die Bühne streben. Wenn ich nicht so professionell wäre würde ich keine Vorstellung überleben. Übrigens wusste man schon in der Antike, wie man sich vor schlechten Gerüchen schützen könne. Da brannte man in einem Gefäß eine Mischung aus Myrrhe, Weihrauch, Borax und anderes Zeugs an und schon erfüllte sich der Raum mit Wohlgerüchen.“
„Stimmt“, rief Erna dazwischen. „Deshalb schwenken die katholischen Pfarrer auch ihre Handtäschchen mit brennendem Weihrauch während der Messe. Da brauchen der Herr Pfarrer und seine Ministranten den Gestank der Gemeinde nicht mehr einatmen. Eine gute Erfindung. Musst du mal dem Direktor des Alberttheaters sagen, liebe Adele.“
Liebenswürdige Bosheiten
„Nee, Erna. Ich glaube nicht, dass der Herr Direktor Geld dafür ausgeben würde. Gestank gehört seit Jahrhunderten zum Theater wie Shakespeare, Schiller und die Schmierenstückeschreiber. Aber zurück zum Parfüm. Wer zum Beispiel Moschus bevorzugt, wie du Martha, der ist ein Mensch voller Liebenswürdigkeit.“ Marthe wurde ob des ungewohnten Lobes verlegen. „Andererseits neigt derjenige aber auch zur Reizbarkeit.“ Nun war Martha nicht mehr lächelnd verlegen, sondern verbissen zornig.
„Nutzer von Geranium-Parfüm neigen zur Zärtlichkeit“, worauf Frieda zu lachen anfing.
„Und was ist mit mir? Ich habe heute einen Veilchenduft aufgetragen“, warf Erna neugierig ein.
„Veilchenduft deutet auf eine ausgeprägte Frömmigkeit hin.“ Großes Gelächter am Tisch. „Dabei gehe ich doch nur Weihnachten und Ostern in die Dreikönigskirche. Oder mal zu einer Hochzeit oder wenn einem Bekannten das Zeitliche gesegnet hat.“
Martha war innerlich immer noch erbost über Adeles bissiger Bemerkung wegen ihres Parfüms. „Adele, ich habe, als wir rein kamen, deinen Rosenduft gerochen. Ich kenne nämlich besagte Analyse auch. Da meinte man, dass Rose auf Hochmut schließen lässt.“
Das saß. Adele lief rot an. Wenn Frieda sie nicht zurück gehalten hätte, wäre sie Martha an die Gurgel gegangen.
Dieser Nachmittag im Narrenhäusel endete leider nicht in Harmonie. Haus Boy Erwin konnte gar nicht so schnell die Mäntel den Damen bringen. Jede zahlte rasch und ging ihres Weges. Bis zum nächsten Kränzchen.
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Neueste Nachrichten vom 4. April 1924
2 Dresdner Nachrichten vom 4. April 1924
3 Dresdner Nachrichten vom 6. April 1924
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.