Mit „Wohl bekomms, die Herren“, begrüßte der Wirt des Restaurants „Zum Markgrafen“ an der Markgrafen-, Ecke Louisenstraße1 die vier Honoratioren hiesiger Neustädter Schulen im kleinen Vereinszimmer und stellte jedem ein Bier nebst Korn an dessen Platz. Letzteres Gesöff erhoben die angesprochenen, dankten dem Herrgott, dem König, dem Wirt und prosteten sich zu.
Kräftige Schlucke der kühlen Blonden spülten das jeweilige Körnchen hinunter. Genüssliche Aaahs und wohlige Seufzer zeugten von größter Zufriedenheit am Tisch an diesem recht trüben Freitag der letzten Aprilwoche des Jahres 1902.
Doch diese Zufriedenheit währte nicht lange.
Professor Wiechert, Chemielehrer an der Dreikönigsschule2, die seit 1895 das erste Reformrealgymnasiums Sachsens an der Arnimstraße 173 war und zu den bedeutendsten Gymnasien in Deutschland zählte, begann sich im Gesicht zu röten. „Meine Herren, es gibt ein Problem, dessen Lösung keinerlei Aufschub duldet.“ Alle schauten ihn an. „Ich rede von den üblen liberalen Machenschaften in unserem Sportunterricht.“4
Die Kehrseite der Moderne
Das war den anderen drei in der wöchentlichen Stammtischrunde unverständlich, zumal sie wenig mit der Körperertüchtigung der Schüler zu tun hatten. Professor Meyer vom Königlichen Gymnasium an der Holzhofgasse 25 unterrichtete Latein und Altgriechisch. Direktor Dr. Krause von der 22. Bezirksschule an der Louisenstraße 422, seines Zeichens Deutschlehrer, verstand nicht, was der Chemieprofessor von der Dreikönigsschule damit meinte, ebenso Herr Dr. Licht, auch als Deutschlehrer, aber an der benachbarten 5. Bürgerschule2 in der Markgrafenstraße 35 tätig.
„Ich brauche noch einen Korn, um meinen Blutdruck zu senken.“ Der Wirt brachte ihn sogleich. Prof. Wiechert verfolgte innerlich gefühlt dessen Weg in seinen Magen und dann ins Blut. Nach einigen Minuten entspannten sich seine Gesichtszüge und auch die der anderen drei am Tisch, die ihren Primus6 genau beobachteten.
„Also, meine Herren, die Lage ist folgende: Der Sportunterricht an unserem Reformrealgymnasium artet immer mehr aus und nimmt schon amerikanische Züge an.“ Die anderen drei Herren verstanden immer noch nichts.
„Mal Klartext. Die allzu große Betonung der körperlichen Betätigung durch Sportübungen geht zu Lasten der geistigen Entwicklung.“
„Aber Sport ist doch wichtig“, warf Professor Meyer, immer noch nichts verstehend, ein.
Was soll Sport leisten
„Dagegen sage ich auch nichts. Es geht mir nur um die übertriebene und den männlichen Körper schamlos in den Vordergrund stellenden Ansichten. Mein lieber Meyer, ich möchte, dass unsere jungen Leute auf die wirklichen Pflichten des Lebens statt auf Wettkämpfe vorbereitet werden. Es geht diesen Athleten doch nur darum, sich allein auf Sieg zu trimmen als auf eine symmetrische Entwicklung zu achten.“
Dr. Licht wog den Kopf hin und her. „Mein lieber Wiechert, wir an unserer Bürgerschule machen nichts anderes als einen ausgleichenden Sportunterricht für unsere Jungs.“
Wider dem unästhetischen Geist
„Ich rede nicht von den Kleinen in den Bürger- und Bezirksschulen, sondern von den großen Jungs in unseren Gymnasien. Und da sollten Sie sich, lieber Meyer, dringendst informieren. Wird sich nämlich dem Sport übermäßig gewidmet, erzeugt man einen sehr unangenehmen männlichen Typus. Mir ist aufgefallen, dass gerade viele der 15- bis 19-Jährigen, gepaart mit einer besonderen Trainierkost das Aussehen grobkörniger, lustbetonter Wilder annehmen. Alles nur unförmige Muskelpakete. Das ist widerlich, unmännlich, undeutsch und unästhetisch.“
„Jetzt, wo Sie das sagen, lieber Wiechert. Ich erinnere mich, flüchtig gesehen zu haben, dass mir einige Jungs im Königlichen Gymnasium begegnet sind, die sich auffällig körperlich dahin entwickeln.“
„Ich finde aber, dass diese Jungs gar nicht so schlecht aussehen. Einige sind wahre Kraftpakete, stimmt. Die können körperlich was leisten. Aber rückläufige geistige Fähigkeiten konnte ich nicht entdecken“, warf Dr. Krause ein.
Folgen von falschem Sport
„Um Gottes Willen, lieber Krause. Was Sie hier daher reden, ist völlig inakzeptabel und moralisch höchst bedenklich. Ich will das nicht gehört haben“, drohte Professor Wiechert mit dem Zeigefinger. „Was folgt denn aus dieser negativen sportlichen Entwicklung? Fußballspieler, Ruderer und Boxer zeichnen sich dann durch eine gewisse Gladiatorenbrutalität aus.“
Dr. Licht hielt nicht mehr an sich. „Herr Wirt, bringen Sie uns bitte noch eine Runde mit Kompott. Anders kann man diese Thesen nicht verdauen. Das ist doch irre, was Sie da raushauen, lieber Wiechert. Mir sind hier in unserer Residenz noch keine Typen begegnet, die Ihrer Beschreibung auch nur annähernd gerecht werden.“
„Ich kann den Thesen von Wiechert schon einiges abgewinnen“, warf Meyer zur Verteidigung ein. „Ich sehe jetzt auch die Gefahren an den höheren Schulen, dass durch eine solche Art Sport die Mehrzahl der Schüler zu buckligen Zuschauern der sogenannten Heldentaten einiger Auserwählter werden. Dieser Einfluss auf die Körper unserer Gymnasiasten und Studenten ist moralisch schlecht. Es könnte sogar so weit kommen, dass es an Instituten, in denen die athletische Ausbildung übertrieben wird, die Gelehrsamkeit stark abnimmt.“
Krause und Licht schütteln mit ihren Köpfen und bestellen eine weitere Runde.
Wie richtig erziehen
Diese Pause nutzte Professor Wiechert zu einem weiteren Traktat, aber mit versöhnlicherem Ton. „Meine Herren, wir sind doch in unseren Ansichten nicht so weit voneinander entfernt. Es geht uns genau wie euch darum, dass der eigentliche Zweck der Schule, hohe Bildung und vaterländische Erziehung, im Vordergrund stehen muss. Wir müssen verhindern, dass der Typus eines Mannes, der ungestüm, kriegerisch und ungeschlacht7 ist, dem Denker, Gelehrten und Gentleman vorgezogen wird.“3
Und Meyer vollendete die Versöhnung. „Es geht uns doch darum, die Wirkung der Athletik in die richtige Abhängigkeit zu den Erfordernissen der Erziehung zu bringen.“3
Freudig prosteten sich alle zu und der Stammtisch löste sich nach weiteren Runden in Wohlgefallen auf.
Anmerkungen des Autors
1 Die Markgrafenstraße heißt heute Rothenburger Straße.
2 Ausgangspunkt war die 1495 gegründete Pfarrschule der Altdresdner Dreikönigskirchgemeinde. Bis 1854 befand sich die Dreikönigsrealschule an der Hauptstraße, Ecke Heinrichstraße. An dieser Stelle stand dann das Hotel „Zum Kronprinz“. Im selben Jahr entstand ein Neubau an der Königstraße. Später zog man an die Arnimstraße, heute Wigardstraße. Als Reformgymnasium wurde der Schwerpunkt auf moderne Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften gelegt. 1945 wurde das Gebäude durch Bomben zerstört. Heute steht an dieser Stelle das Sächsische Staatsministerium für Forschung, Bildung und Kultur. Der Name Gymnasium „Dreikönigsschule“ wurde 1997 auf den Schulkomplex Gymnasium Dresden-Neustadt, Ecke Rothenburger Straße/Louisenstraße, übertragen. Die Gebäude der ehemaligen 22. Bezirksschule und der 5. Bürgerschule sind heute Bestandteile des Gymnasiums Dreikönigsschule.
3 heute Wigardstraße
4 Dresdner Nachrichten vom 1. August 1902
5 Das Gebäude wurde 1945 zerstört.
6 aus dem Lateinischen: der Erste
7 in der Bedeutung von grob, plump, klobig
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.