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Ein Sonntagmorgen im Mai 1924

„Nun mährt nicht so lange rum, sonst krieg ich keinen Platz mehr für meine Bettwäsche“, drängelte Berta Albrecht ihre drei Kinder und ihren Mann. Dann drückte sie den schweren Korb mit den nassen Bettbezügen, Kopfkissen und Laken ihrem Gatten Franz auf. Ihr Ältester, der 14-jährige Paul, musste den Korb mit den Broten und den Getränken tragen, Ludwig bekam ungefragt die Sitzdecke in die Hände. Nesthäkchen Elisa durfte die leere Gießkanne tragen und Mama Berta nichts, außer die Verantwortung, wie sie stets sagte. Das sei schließlich fast das Wichtigste im Leben einer gleichberechtigten Frau. Das wollten doch die Genossen in ihren Agitationen. Nur ihr Mann hatte damit einige Probleme.

Vorm Japanischen Palais war das Gras am Saftigsten. Foto: Archiv Anton Launer
Vorm Japanischen Palais war das Gras am Saftigsten. Foto: Archiv Anton Launer

Keine sonntägliche Ruhe

Und so marschierte Familie Albrecht von vierten Stock ihres Wohnhauses in der Neustädter Körnerstraße 2 durch selbige bis auf die Elbwiesen vor dem Garten des Japanischen Palais. Von sonntäglicher Ruhe war an diesem Morgen hier nichts zu spüren. Kinder lärmten, Mütter riefen diese zur Ordnung, Väter öffneten die ersten Bierflaschen mit anderen Männern ihrer Gattung zum Frühschoppen.1 Beinahe wäre Vater Franz beim Überqueren des Weges mit einem dieser dahinrasenden Radfahrer kollidiert. Flüche auf beiden Seiten. Sohn Ludwig warf dem Radfahrer einen Stein hinterher. Dafür bekam er vom Mama Berta eine Backpfeife.

Dresdner Nachrichten vom 19.5.1924
Dresdner Nachrichten vom 19.5.1924

Auf Platzsuche

Nach Überquerung des Uferweges am Palais ging Berta schnurstracks in großen Schritten dahin, wo aus Erfahrung die Elbwiesen um diese Jahreszeit am saftigsten waren. Leider hatten auch andere aus der Neustadt diese Idee und so waren bereits gegen 8 Uhr morgens an diesem Sonntag viele Flächen mit Bettzeug zum Trocknen und Bleichen belegt. Berta erspähte weiter rechts in Richtung der Marienbrücke eine Fläche, die noch genug Platz bot.

Im nu breiteten sie, ihr Ehemann und Elisa die Bettbezüge, Kopfkissen und Laken aus. Im Osten hob sich die Sonne. Wolken gab es keine. Es würde wieder ein frühsommerlicher Tag werden. Ludwig und Elisa mussten abwechseln die fast trockenen Wäschestücke mit Elbwasser begießen, um den Bleichprozess voranzubringen. Naja, das Elbwasser war zwar kein Quellwasser, aber die Bettwäsche war auch nicht die neueste. Inzwischen hatte Sohn Paul die Decke ausgebreitet und stellte den Fresskorb daneben.

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Der Feind lagerte nebenan

Dann bemerkte Vater Franz, dass unweit von ihnen eine andere Familie aus der Körnerstraße aus denselben Gründen ihr Lager aufgeschlagen hatte. Die Freude hielt sich in Grenzen. Neben ihnen lagerte der Schlossergehilfe und stramme Nationalsozialist Helmut Wichert aus der Nr. 8. Dessen Frau Gerda las in einem Buch und die beiden Kinder spielten irgendein Kartenspiel.

Als Franz, als Mitglied der KPD, seine Berta darauf aufmerksam machte, weigerte sich diese, umzuziehen. Es gäbe keinen anderen Platz mehr und nass nehme sie die Wäsche nicht mehr mit nach Hause. Und schließlich könne man dieses Pack auch ignorieren.

Schöne Aussichten

Und so holte man die Butterbrote aus dem Korb. Mama verteilte Limonade an die beiden Kinder und Papa Franz öffnete eine Flasche Bier.

„Wie schön es hier ist“, seufzte Berta. „Das Geld für einen Urlaubsreise hätten wir sowieso nicht und diese Aussicht nah bei unserem Zuhause haben wir zudem gratis.“ Franz brummte nur, was eine Art Zustimmung bedeuten könnte. Diesem romantisierenden Blick auf Semperoper, Hotel Bellevue, Schloss, Georgentor, Hofkirche, Landtagsgebäude, Brühlsche Terrasse und der Frauenkirche im Hintergrund konnte er nichts abgewinnen. Das waren Relikte aus vergangenen Zeiten, Relikte von Ausbeutern und Schmarotzern. Dieses Heimatgedöns war ihm zuwider. Seine Heimat war das Arbeiterparadies in der Sowjetunion. Er kämpfe für ein Dresden ohne Ausbeuter und für ein sorgloses Leben der Arbeiter, für eine deutsche Sowjetrepublik.

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Und da die Sonne inzwischen höher stand und deren Strahlen den Schweiß auf die Stirn trieben, entkleideten sich Franz, Paul und Ludwig vollständig und stürzten sich zur Abkühlung in die vielleicht gerade mal mit 14 Grad temperierte Elbe. Auch andere Männer und Jungs tummelten sich völlig nackt und ungeniert im kühlen Nass. Frauen und Mädchen hielten sich diesbezüglich an diesem Elbeabschnitt zurück. Zwar hätten sie in eines der Bretterbuden von Elbebäder in Richtung der Augustusbrücke gehen können, die gerade aufgebaut wurden. Aber das Geld könne man sich sparen.

Angriff der Möwen

Nach der Abkühlung legte sich Sohn Paul zum Trocknen auf die Decke und beobachtete interessiert auf der Nachbardecke die ebenfalls 14jährige Luisa, die Tochter vom Nazi Wichert. Deren Rundungen brachten sein Blut in Wallungen und ließen ihn reglos bäuchlings verharren.

Plötzlich kam ein lauter Aufschrei aus deren Richtung. Gerda Wichert, die als Putzfrau im Körnerhaus auf der Körnerstraße 7 arbeitete, sprang auf und verfluchte lautstark mit erhobener Faust die davonfliegenden Möwe. Diese hinterließ auf der weißen, fast trockenen Bettwäsche einen Streifen grünlicher Verdauungshinterlassenschaft.

Franz Albrecht brach in lautes Gelächter aus. „Das ist ein Gruß von Lenin aus der Sowjetunion.“

„Der ist längst tot2, wie auch bald dein rotes Kommunistenparadies“, kam als Antwort von Helmut Wichert.

In der Zwischenzeit wurde eine andere Möwe von dem leinenen Bettzeug der Albrechts magisch angezogen und hinterließ beim Rundflug auf einem Laken einen schönen Streifen stinkender Brühe. Sofort sprang Berta auf und rannte mit dem Betttuch zur Elbe und spülte die Hinterlassenschaft der Möwe so gut es ging aus.

„Herzliche Grüße von meinem Führer“, schrie Helmut Wichert laut lachend herüber und hob die rechte Hand zum Hitlergruß.

„Der sitzt doch seit April wegen seines dilettantischen Putschversuches mit Wickelgamaschen Schirmmützen und Mauserpistolen gegen die bayrische Regierung in der Festung Landsberg für die nächsten fünf Jahre. ein“3

Wichert winkte ab. „Beim nächsten Mal machen wir es besser. Und ich wette mit dir, dass mein Führer Weihnachten wieder zuhause ist.“

„Ehe das passiert, haben wir euren Spuk und diese Ausbeuterrepublik hinweggefegt und Sachsen ist dann eine Sowjetrepublik.“ Das Wortgefecht eskalierte.

Doch keine Revolution auf den Elbwiesen

Beide Männer erhoben sich und gingen drohend aufeinander zu. Inzwischen haben sich hinter ihnen die Anhänger der jeweiligen Partei versammelt und die Frotzeleien drohten zu einer handfesten Prügelei auszuarten.

Beide Ehefrauen griffen beherzt ein. „Jetzt mal Schluss mit dem Gezeter. Wer ersetzt uns den Verlust der Bettwäsche, wenn ihr euch hier rumprügelt wie die Kesselflicker. Von deinem Lohn bei Villeroy & Boch können wir uns solche echte Friedensware nicht leisten“, schrie Berta. Und Gerda stand ihr bei. „Reiß dich zusammen, Helmut.“ Und zu dessen Freunden rief sie, dass sie sich trollen sollten. Schließlich sei Sonntag und da hat laut Gott Frieden zu herrschen.

Die beiden Streithähne setzten sich murrend auf ihre Decken Und die Unterstützer verließen diesen Wiesenbereich vor dem Japanischen Palais. Beide Familien sammelten die inzwischen trockene Bettwäsche ein und machten sich in gehörigem Abstand zueinander auf den Weg in ihre Wohnungen.

Anmerkungen des Autors

1 siehe Dresdner Nachrichten vom 19. Mai 1924
2 Lenin starb am 21. Januar 1924 an den Folgen eines Attentats von 1922, eine Neurosyphilis, mehrerer Schlaganfällen und geistigen Verwirrungen.
3 Am 9. November 1923 versuchten Hitler, General Ludendorff u.a. die bayrische Regierung im München und danach die deutsche Reichsregierung in Berlin zu stürzen. Vorbild war u.a. auch Mussolinis Marsch auf Rom 1922. In einem mehrmonatigem Prozess vor dem Volksgericht in München wurde Hitler am 1. April 1924 zu 5 Jahren Festungshaft in Landsberg verurteilt. Dort entstand auch der erste Band seines Buches „Mein Kampf“. Am 20. Dezember 1924 wurde er auf Bewährung entlassen. Man glaubte, dass damit diese rechte Bewegung sich selbst zerlegt hätte.


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.