Manchmal offenbarte der Zufall seine komische Seite. So auch an diesem sommerlichen Junitag 1924. Aus der Hauptstraße näherte sich forschen Schritts, von einer Probe aus dem Alberttheater kommend, im seidenen bunten Hänger-Kleid die Diva Adele Lampel, eine fruchtig-liebliche Duftwolke hinter sich herziehend, dem Treffpunkt der Klatschrunde im Narrenhäusel1 am Aufgang zur Augustusbrücke. Schneidermeisterin Frieda Lempke kam aus der Großen Meißner Straße. Unter ihrem Kleid waren die Rundungen ihres Körpers gut sichtbar. Erna Schwuppke, die Hoteliersgattin, näherte sich dem Treffpunkt aus der Großen Klostergasse und die Frau Beamtin Martha Kruska kam über die Augustusbrücke vom Einkaufsbummel aus der Dresdner Altstadt herbeigeeilt.
Punkt drei Uhr am Nachmittag kamen alle vier gleichzeitig am Eingang zum Narrenhäusel an. Die gegenseitigen Begrüßungen erinnerten die Passanten an eine schnatternde Gänseschar. Dann verschwand das Quartett im Innern des Hauses. Hausboy Erwin erwartete die Damen am Eingang zum Lokal und geleitete sie eine Treppe tiefer in den Garten.
Für einen Platz im Schatten
„Erwin, hoffentlich hast du an einen Sonnenschirm gedacht“, moserte Diva Adele. „Ich brauche meinen hellen Teint, der nicht von bäuerlicher Bräune verfälscht werden darf.“ Erna Schwuppke pflichtete ihr bei. Den beiden anderen Damen war es wurscht.
Erwin grinste über das ganze Gesicht und verwies auf einen großen runden Tisch, der von zwei Sonnenschirmen flankiert wurde. Dabei betonte er, dass er bei der Aufstellung des Tisches genau berechnet habe, wann die wandernde Sonne in welchem Winkel die Plätze bescheinen würde, damit zu keiner Zeit die edle Haut der Damen mit den Strahlen von oben berührt werde. Adele tätschelte mit wohlwollendem Lächeln Erwins linke Wange. Inzwischen war Oberkellner Franz herbeigeeilt und nahm die Bestellung der Damen auf.
Die erste Bosheit des Nachmittags
„Diesmal bin ich dran“, rief Martha Kruska, keinen Widerspruch duldend. „Mein Mann hat endlich seine längst verdiente Beamtenbesoldungserhöhung bekommen.“ Frieda Lempke konnte sich ein verschmitztes Grinsen und eine Bemerkung nicht verkneifen. „Aha, wie wunderbar. Da ist er wohl dabei erwischt worden, dass er eine Akte über der Norm schneller bearbeitet hat?“
Dafür erntete Frieda einen bösen Blick von Martha. Nun war es an Adele, ein aufkommendes Missverhältnis am Tisch zu unterbinden, zumal sie nach Champagner lechzte, auch wenn es nur deutscher Sekt war. Oberkellner Franz wartete geduldig die Schlichtung des ersten Streits ab. Er kannte seine ungleichen Pappenheimerinnen, wie er hausintern dieses Kränzchen nannte. Dann servierte er die obligatorische Kaffeerunde mit Eierschecke und vier Gläser Sekt.
Schlagsahne wieder erlaubt
Adele fragte den Oberkellner nach frischen Erdbeeren mit Schlagsahne. „Schlagsahne gibt’s nicht“, warf Frieda ein. „Gnädige Frau, das stimmt nicht ganz“, korrigierte Oberkellner Franz den etwas voreiligen Einwand. „Zwar darf Vollmilch an Tiere wegen der Überproduktion verfüttert werden, aber die sehr fetthaltige ausländische Milch dürfen wir seit kurzem mit ministerieller Genehmigung zu Schlagsahne verarbeiten und anbieten.“2
Martha klatschte erfreut in die Hände. „Endlich braucht man Erdbeeren oder eine Apfeltorte nicht mehr trocken, sondern nobel feucht vernaschen. Franz, bitte bringen Sie für jede von uns eine Schale mit frischen Erdbeeren und viiiiel Sahne obendrauf. Und natürlich noch eine Runde Sekt.“
Vorsicht beim Essen von Morcheln
Derweil las die Hotelgattin Erna in der ausliegenden Speisekarte und stieß einen spitzen Schrei aus. „Liebste Freundinnen, die wollen uns hier vergiften!“ Erschrocken blickten alle auf und bestürmten laut schnatternd Erna. „Hier gibt es Morchelsuppe!“ Das rief aber nur ungläubiges Stirnrunzeln hervor. „Also, meine Lieben. Ich habe vor Kurzem in der Zeitung gelesen, dass es im vergangenen Jahr allein in einem Gasthof im Mecklenburgischen sieben Tote nach dem Genuss von Morchel gegeben habe.“3
Der inzwischen mit den Erdbeeren und dem Sekt erschienene Kellner hörte diese Worte. „Meine Damen, keine Angst. Unsere Morchelsuppe ist kein Giftgebräu. Und gestorben ist hier noch keiner. Naja, zumindest nicht an Morcheln“, grinste er und erläuterte das Rezept. „Man muss die Morcheln zuerst gründlich putzen und vom Sand befreien. Dann müssen sie gekocht und nicht einfach nur gedünstet werden. Das Kochwasser darf man nicht mehr für Soßen und dergleichen nutzen, heißt weggießen. Und erst dann wird daraus eine Suppe oder ein Ragout. Wir verwenden diese Pilze seit ein paar Tagen und es hat deswegen noch niemand unser Narrenhäusel in einer Holzkiste verlassen.“
Goldene Regeln für ein gottgefälliges Sexleben in der Ehe
Frieda fiel auf, dass Diva Adele seit einiger Zeit ziemlich ruhig und zurückhaltend am Tisch saß und fragte nach dem Grund.“
„Ach, meine Lieben, einige meiner Verehrer sind ziemlich aufdringlich. Ich werde die kaum los. Nach der Probe heute lauerten sie mir am Personaleingang auf, so dass ich den Direktionsausgang benutzen musste. Denen könnte ich eine Morchelsuppe servieren, aber mit Kochwasser.“
„Aber Adele, du hast die doch seit Jahren zur Aufdringlichkeit animiert. Und jetzt, wo du älter wirst, willst du deine Ruhe“, entgegnete Martha spitzfindig. Die sonst so feine Adele steckte ihr frech die Zunge raus.
„Ich weiß Rat, liebe Adele“, rief aufgeregt Frieda Lempke in die Runde, um die Bosheit von Martha nicht in wüste Zickereien ausarten zu lassen und winkte alle näher an sich heran, damit die Leute an den Nachbartischen dieses Gespräch nicht mitbekommen sollten. „Ich kenne noch einige von den Suffragetten aus der Zeit vor dem Weltkrieg, als ich noch in dieser Bewegung aktiv war. Wir haben damals für das Frauenwahlrecht gekämpft. Eine von meinen Kameradinnen hat es sogar bei den letzten Wahlen in den Reichstag geschafft. In irgendeiner linken Frauenzeitung hatte sie kürzlich einen satirischen Text über die Regeln eines erfüllten bürgerlichen Ehelebens geschrieben.“ Das wollte die anderen drei natürlich hören und so trafen sich die vier Köpfe über der Tischmitte.
Der Reihe nach
Die erste Regel sei, so Frieda, dass man mit dem Sex warten soll bis es draußen dunkel ist und dann darf auch kein Licht im Schlafzimmer brennen. Der Mann müsse volle Lust haben und der Aktive sein.
„Wenn ich darauf warten würde, dann wäre ich heute noch Jungfrau“, flüsterte Adele, was mit laut kreischendem Lachen quittiert wurde. Dann lauschten alle der nächsten Regel.
„Von oralen Nebensächlichkeiten, wie Küssen und anderes ist abzusehen.“ Martha wusste mit oralen Nebensächlichkeiten nichts anzufangen. Diese wiederum kannte Adele von ihren Verehrern und erwiderte verschmitzt lächelnd auf ihren Einwand, dass sie es ihr später oral erklären würde.
Erna schüttelte nur mit dem Kopf. „Das klingt wie eine Predigt unseres Pastors in der Martin-Luther-Kirche. Wir sollen also nur daliegen wie ein Brett und alles über uns ergehen lassen?“ Frieda schüttelte ihren Kopf.
„Liebste Erna, das ist alles nur ironisch gemeint. Bei der Zeitschrift handelt es sich um ein links-liberales Frauenmagazin, dass man nur in wenigen Zeitungsläden in Berlin kaufen kann.“
„Und was macht man, wenn plötzlich die Kinder reinkommen und sehen, wie wir im Gange sind?“, fragte Erna, das Ironische nicht verstehend. „Da sollte man sofort erstarren und jegliche Handlung abbrechen, da die Kinder sonst psychische Schäden davon trügen, heißt es in einer weiteren Regel“, so Frieda.
Zwischen Lust und Frust
Martha schüttelte ihr Bubiköpfchen. „Die Kirche meint aber, dass der Beischlaf aus purer Lust den Regel der Kirche, den guten Sitten und dem Anstand widerspreche.“
„Dafür bin ich übervoll mit Lust, fehlendem Anstand und Sittenlosigkeit ausgestattet“, kicherte Adele. „Das Klischee über uns Schauspielerinnen muss doch bedient werden.“ Martha und Erna blieben die Münder offen stehen. Frieda fuhr fort.
Sexverweigerung
„Zum Schluss gab meine Suffragetten-Freundin noch den, wohlgemerkt, ironischen Rat, liebe Martha, hör gut zu, dass man dem Manne durchaus den ehelichen Beischlafpflichten entsagen dürfe und zwar dann, wenn man als Gattin monatlich fünfzehnmal Kopfschmerzen habe, siebenmal eine Nervenkrise und fünfmal die Monatsblutung durchmache, dreimal übermüdet sei und einmal dürfe man dann sogar strikt nein sagen.“
Martha zählte zusammen und kam auf 31 Tage. „Aber dann dürfe man nie mehr beischlafen?“
„Stimmt“, bestätigte Adele die Rechnung und widersprach zugleich der Schlussfolgerung. „Doch, liebe Martha, man darf. Es gibt nach Meinung der Kirche nur eine Möglichkeit zum Beischlaf, nämlich wenn die Absicht bestehe, Kinder zu machen. Das Problem sei nur, dass es oft nicht klappt, wenn man es nur einmal macht. Deshalb müsse man üben, üben, üben. Die ganzen 31 Tage.“
Und dann drohte Adele der Schneidermeisterin Frieda mit dem rechten Zeigefinger. „Du scheinheiliges Luder. Du bist ganz schön durchtrieben. Hätte ich nicht von dir gedacht. Aber sehr witzig, dieser Artikel von deiner Freundin aus Berlin, auch wenn ihn Martha nicht verstanden hat.“
In dieser heiteren Stimmung, die mit weiteren Runden Sekt noch vergrößert wurde, ging das Kränzchen zu Ende und jede der Damen strebte ihrem Zuhause in der Ansicht entgegen, einen schönen unterhaltsamen Nachmittag erlebt zu haben.
Anmerkungen des Autors
1 soll irgendwann wieder aufgebaut werden
2 aus Dresdner Neueste Nachrichten vom 27. Mai 1924
3 aus Dresdner Neueste Nachrichten vom 28. Mai 1924
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.