Talstraße 16: Wie angekündigt, erscheint am Mittwochmorgen um 8.30 Uhr der Gerichtsvollzieher in Begleitung von zwei Polizisten. Vor Ort demonstrierte ein gutes Dutzend Menschen gegen die Räumung.
Nach einer knappen halben Stunde verließ der letzte Mieter des Hauses, der Architekt Andreas Rieger, eskortiert von der Polizei, das Haus. Der Gerichtsvollzieher sammelte den Schlüssel ein und ein Handwerker sicherte Hinter- und Vordertür mit Holzbalken.
Der Protest blieb friedlich, wenn auch lautstark. Kurz nach der Räumung traf noch ein Trupp der Einsatzpolizei ein und fragte, ob jemand eine Versammlung anmelden wolle. Zu dem Zeitpunkt war der Landtagsabgeordnete Thomas Löser (Grüne) vor Ort. Er meldete eine Spontanversammlung an. Damit gab sich die Polizei zu Frieden. Schließlich war das Haus abgeschlossen und die Versammlung löste sich auf.
Vor Ort war auch ein Hausverwalter der Immobilie, der wollte aber weder der Presse etwas sagen, noch Hinweise des Architekten auf eine denkmalgerechte Sanierung entgegennehmen.
Umfangreiche Vorgeschichte
Die Vorgeschichte des rund 150 Jahre alten denkmalgeschützten Hauses ist komplex. Zu DDR-Zeiten hatte die Besitzerin das Haus in den 60er/70er Jahren an die Stadt verkauft. Seitdem war es in kommunalem Eigentum, später Woba und wurde dann im Paket an den Investor Fortress, später Gagfah, verkauft. Das Unternehmen wiederum veräußerte Teile seines Immoblienbestandes an Dritte. Zwar gab es in der ausgehandelten Sozialcharta ein Vorkaufsrecht für Mieter, aber offenbar gab es damals eine rechtliche Lücke, denn die Hausgemeinschaft der Talstraße 16 kam nicht zum Zuge, sondern ein Investoren-Trio.
Die behielten das Haus und verkauften es 2020 an die heutigen Eigentümer. Seitdem sind nach und nach die Mieter*innen des Hauses ausgezogen. Wie Nachbar*innen berichten, teilweise mit Abfindung. Letzter Mieter war nun Andreas Rieger. Er ist hier in Dresden amtlich gemeldet und kandidierte auch für die Grünen für den Stadtbezirksbeirat. Jedoch hat er wohl selbst die Räume zuletzt nur noch als Büro genutzt, wie er gegenüber Neustadt-Geflüster einräumt. Nachbarn sprechen davon, dass es sich bei dem „Büro“ nur um eine Inszenierung handle und Rieger hier schon lange nicht mehr gesehen wurde.
Das Wohnen hier war aber auch nur noch erschwert möglich, so war die Toilette zerstört und immer wieder waren Strom und Wasser abgeschaltet. In den übrigen Wohnungen haben bereits Sanierungsarbeiten begonnen, vor allem wurde die Dielung herausgerissen.
Laut Rieger hatten die Eigentümer ihm den Mietvertrag mittels einer sogenannten Verwertungskündigung1 gekündigt und schließlich auch am Amtsgericht geklagt. Die Klage ging zu Gunsten der Eigentümer aus. Darauf folgte nun die Zwangsräumung. Rieger hat nach eigener Aussage Revision beim Landgericht eingelegt. Eine Entscheidung darüber steht noch aus.
Neben dem Landtagsabgeordneten Löser machte sich auch Stadtbezirksamtsleiter André Barth ein Bild von der Lage vor Ort. Er bedauerte, dass es nicht zu einer einvernehmlichen Lösung mit den Mietern gekommen sei. Löser betonte nach der Räumung, dass dies das traurige Ende einer verfehlten Wohnungspolitik sei. Die Stadt Dresden habe es jahrelang versäumt, die politischen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass langjährige Mieterinnen und Mieter in die Lage versetzt werden, die von ihnen bewohnten Häuser selbst zu erwerben und dem Spekulationsmarkt zu entziehen.
Randnotizen
Rieger hatte in der Nacht zum Dienstag an dem Haus die Buchstaben „WOHNOPOLY“ angebracht und erinnerte damit an das gleichnamige Kunstprojekt in der benachbarten Schönfelder Straße. Gemeinsam mit der Architektin Anke Vogt hatte er auch die legendären „Goldenen Platten“ an der Kreuzung Alaun-/Louisenstraße verlegt (Neustadt-Geflüster von 2012).
Das Haus wird als Kulturdenkmal geführt. Es wurde um 1875 errichtet und ist damit um ein paar Jahre älter als die übrige Bebauung in der Talstraße. Über der Haustier prangt eine Büste des ehemaligen Königs von Sachsen, Albert von Sachsen, nach dem die Albertstadt benannt ist.
1 Eine ordentliche Kündigung ist nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) Paragraph 573 (Absatz 3) möglich, wenn der Vermieter durch die Fortsetzung des Mietverhältnisses an einer angemessenen wirtschaftlichen Verwertung des Grundstücks gehindert und dadurch erhebliche Nachteile erleiden würde.
Nachtrag 25. Juli
Auf Nachfrage hat sich der Anwalt der Eigentümer gegenüber dem Neustadt-Geflüster geäußert. Siehe Bericht vom 25. Juli.
Natürlich ist die Wohnungspolitik Dresdens eine Katastrophe – v.a. daß man unwillens war, aus dem dogmatischen Komplettverkauf der WOBA jene minimalen Teilbestände auszunehmen, wo man stadtentwicklerisch-vielfältige und absehbare Handlungsoptionen hatte.
Aber hier scheint die Berichterstattung zum Fall doch den Bock zum Gärtner zu machen. Da ist man einer Inzenierung auf den Leim gegangen, wo ein Ex-Münchner nochmal meldiale Rache für seinen gescheiterten langjährigen Traum eines Eigenerwerbs oder Hausprojektes zu nehmen trachtete.
So wie es für Mieter sehr schwer sein kann, ist es aber auch für manche Eigentümer nervzerreibend schwer und Dank Rechtsstaat langwierig, renitente Elemente loszuwerden (z.B. Mietnomaden oder Besetzer). Auch hierzu gibt es Reportagen im TV. Selbst wenn der Herr ein „echtes Büro“ unterhalten hätte, wäre es dennoch Zweckentfremdung von Wohnraum und Blockade einer dringend anstehenden Sanierung des Hauses.
Ich hoffe daß die Neueigentümer, also das Ärztepaar aus B-Werda, diese Baumaßnahme tatsächlich angehen und wünsche guten Fortschritt trotz hoher Baupreise momentan.
Auf der anderen Seite der Talstraße hatten Leute viel Glück zum richtigen Zeitpunkt, sie erwarben ihre Wohnungen vor ca. 10 Jahren für noch sehr günstig. Jetzt ist das alles dreimal so teuer geworden, das ist einfach der Garaus für den Immo-Markt, und die Immobilien-Fuzzis sagen der LHD bereits noch krassere Mietsteigerungen voraus (Chipindustrie und Nullneubau). Der Großteil der Stadträte/innen des damaligen WOBA-Vollverkaufs ist hingegen wohlhabend und wohnte da schon selbst im Eigentum und oft am „grünen Rand“ von Dresden. Wen schert es, sie waren „gewählt“, die Leute bekommen die Politniks die sie verdienen.
Häuser sanieren, ohne die Bewohner*innen vor die Tür zu setzen, ist möglich. Die Mieter*innen wurden aber vertrieben, weil das Ärztepaar sonst nicht die Mondmiete verlangen kann, die es braucht um die angestrebte Rendite zu realisieren. Das ist der Kern der Entmietungspraxis.
@Eierschrecke: Welche Wohnungen auf der anderen Seite der Talstraße wurden denn günstig verkauft?
@puh
…klar ist bewohntes Sanieren im Einzelfall möglich, schränkt dann aber den Umfang der Sanierung massiv ein.
Wenn gleichzeitig die gesamte Elektrik, Decke, Wände, Boden und Heizung saniert werden müssen ist das nicht mehr im bewohnten Zustand möglich… da gibt es auch keine Baustellenromantik… soviel Tetris hält auch kein Mensch aus… warten wir mal ab, da werden sicher wieder Wohnungen draus werden… ja, zu anderen Preisen, die bekommen aber auch was fürs Geld….
@Echt? Gibt bzw. gab auch mal Lösungen, wo Mieter*innen nur temporär ausziehen und die Vermieter Ersatzwohnungen gestellt haben (was eigentlich auch logisch ist: wenn der vermietete Raum nicht nutzbar ist, dann ist das Sache des Vermieters Ersatz zu besorigen). Das was hier gemacht wird ist Entmietung und Verdrängung. Denn genau die anderen Preise danach sind ja das verdammte Problem. Damit wird sortiert, wer da wohnt und wer nicht. Noch dazu ist es aufgrund der Mietspiegelkonstruktion (nur Neuvermietungen werden berücksichtigt) zum Nachteil der Nachbarschaft. Ohne dass sich bei ihnen was ändert/verbessert, steigt das Mietniveau. So geht Umverteilung von unten nach oben. Da hilft auch nicht deine Kapitalismusromantik.