„Endlich geht es loooos“, rief jubelnd Franz Menzel, der Sohn des Gastwirts „Zum Alberttheater“ auf der Alaunstraße 2 in die Runde, wedelte dabei mit seinem Einberufungsbefehl1 und erhielt viel Beifall von den Nachbartischen. Am 6. August 1914 müsse er sich in der Infanteriekaserne in der Albertstadt melden. Dieser letzte Abend gehörte seinen Freunden.
Einer goss Wasser in den Wein
„Nun bleib mal aufm Teppich, mein Junge“, wandte sich der 70jährige Pensionär Paul Hofmeister vom Haus gegenüber und goss Wasser in den Wein der Euphorie der sogenannten Patrioten. „Ich war, wie ihr alle hier wisst, 1870/71 war ich in Frankreich mit dabei, als der preußische König Wilhelm in Versailles zum Kaiser der Deutschen gekrönt wurde. Es grenzte an ein Wunder, dass mich keine Kugel traf. Krieg ist kein Waldspaziergang und auch kein Kindergeburtstag. Ich habe dem Tod bei seiner Ernte sehr oft zuschauen müssen. Und dessen Ernte war reichhaltig. Die Schreie der verwundeten und sterbenden Soldaten höre ich heute noch. Also hört mir auf mit euren Jubelmärschen und Hurra-Gebrülle“, winkte er ab und nahm einen Schluck aus seinem Stammhumpen.
Die Jungenbande der Alaunstraße, bestehend aus Franz, Walter, Berthold und Emil wandten sich, stiller geworden, ihren Biergläsern zu. Der Gastwirtssohn wechselte das Thema und nahm sich den schmächtigen Sozi Emil vor.
Die SPD fiel um
„Vor einer halben Woche haben deine Genossen von der SPD zu Tausenden oben in der Reichskrone und in der ganzen Stadt noch gegen einen Krieg protestiert und wollten am liebsten in ganz Europa eine Revolution anzetteln, um die sogenannten Kriegstreiber davon zu jagen. Und nun? Gestern im Reichstag haben sie mit allen anderen Parteien den Kriegskrediten zugestimmt und sind vor dem Kaiser auf die Knie gegangen.2 Beinahe hätten sie Wilhelm II die Hand geküsst, als dieser in seiner Rede davon sprach, dass er keine Parteien mehr kenne, sondern nur noch Deutsche.
Dann soll Majestät gesagt haben: ‚Zum Zeichen dessen, dass Sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschied mit mir durch dick und dünn, durch Not und Tod zu gehen, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir dies in die Hand zu geloben.‘ Das taten deine Genossen dann auch.“ Bravo-Rufe von den Nachbartischen, nur Paul Hofmeister winkte ab.
Emil schaute verlegen nach unten. Ihm war dieser radikale Sinneswandel seiner Genossen in Berlin nicht geheuer. Auch sein Vater war zunächst irritiert, dann erzürnt und betrank sich mit anderen Sozis in seiner Stammkneipe.
Die Jungen waren heiß
„Lass den Emil in Ruhe“, mischte sich Frieda Menzel, die Wirtin, ein und rügte ihren Sohn. „Euer Kriegsgeheul geht mir sowas auf die Nerven. Der Hofmeister hat ganz recht. Im Krieg gewinnt keiner. Alle verlieren.“
„Mama, das verstehst du nicht. Diesmal wird das anders. Die Österreicher verputzen die Serben zum Frühstück und die Russen zum Mittagessen. Zur Vesper werden die Franzosen ihr blaues Wunder erleben. Die Engländer jagen wir am Abend über den Kanal zurück und unsere Kolonien in Afrika erweitern wir tags darauf. Uns kann keiner“ und ließ dabei seine Muskeln spielen.
„Das haben wir den Froschschenkelfressern schon 1870/71 gezeigt. Ja, Paul Hofmann, auch wenn dafür viele Opfer gebracht wurden, so haben wir doch gesiegt und Elsass-Lothringen zurück ins Reich geholt.“ Dann hob er sein Glas. „Auf den Kaiser, auf Deutschland und unsere Brüder in Österreich-Ungarn.“ Viele erhoben sich und prosteten sich zu.
Adolf Menzel brachte den Freunden eine neue Runde Bier und eine Runde Kurze. „Geht aufs Haus, Jungs.“
Frauen sahen das anders
Mutter Frieda sagte der Witwe Emma Schlegel vom Haus gegenüber, die viele Abende hier im Lokal als Flucht vor der Einsamkeit verbrachte. Das sich das eigentlich nicht schickte, war der Witwe und auch der Wirtin egal. „Der Krieg hat noch nicht einmal angefangen und schon haben die Preise in den Läden nur eine Richtung, nämlich steil nach oben. Und wir müssen mit den paar Kröten die Kinder großziehen. Aber das schert diese jubelnden Patrioten nicht. Die sind bald fort auf ihrem herbeigesehnten Schlachtfeld. Die Zeitungen sind auf Hurra eingestellt. Da würde eine für ganz Sachsen reichen. Und überall werden plötzlich irgendwelche russische Spione entdeckt. Als ob die nicht schon immer da wären“,3 brummelte die Wirtin beim Gläser spülen.
„Recht hast du, Frieda. Ich habe gelesen, dass die Bäckerinnung eine Versammlung4 einberufen habe, weil viele Innungsmitglieder und deren Gesellen inzwischen in den Krieg gezogen sind, es also an Leuten fehle, die in den Backstuben arbeiten. Und da haben die sich was Besonderes einfallen lassen.“ Frieda Menzel neigte ihren Kopf neugierig zu Emma hin.
„Mit der Vielfalt im Bäckerladen soll jetzt Schluss sein. Nur noch ein einheitliches Brötchen aus einer einheitlichen Mehlsorte soll es geben. Das sei das Ende des geliebten Dreierbrötchens. Auch Kaiserbrötchen und Mundsemmeln gibt es dann nicht mehr. Das neue Brötchen soll einheitlich fünf Pfennige kosten. Drüben in Löbtau soll es das schon geben und die Kundschaft habe sich damit abgefunden.“
„Oje, wer weiß, wieviel Stroh und minderwertiges Mehl dann verwendet wird. Es geht abwärts“, warf Frieda ein. „Bald verfällt das Papiergeld und wir haben überall nur noch Mangel. Die Leute fangen schon an zu hamstern. Und wer muss das am Ende ausbaden? Wir Frauen natürlich.“
Weihnachten wären sie wieder Zuhause
Das fochte die Freunde am Stammtisch nicht an. Je höher der Alkoholspiegel, desto lauter die Gesänge und Jubelschreie. „Freunde, nun sind wir von Feinden umzingelt. Morgen rücke ich in die Schlacht“, rief Franz und reckte sein Bierglas wie ein Schwert in die Höhe. „Jeder Stoß ein Franzos, jeder Schuss ein Russ und Serbien muss sterbien. Weihnachten kommen wir alle siegreich hier zusammen. Versprochen. Prost.“
Die Freunde sahen sich nie wieder.
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Neueste Nachrichten vom 1. August 1914
2 Dresdner Nachrichten vom 5. August 1914
3 Dresdner Neueste Nachrichten vom 9. August 1914
4 Dresdner Neueste Nachrichten vom 2. August 1914
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.