Oskar Becker, der Besitzer des Hotels „Vier Jahreszeiten“ am Neustädter Markt stand in der Eingangshalle seines Etablissements und wischte sich den Schweiß von Stirn, Gesicht und Nacken. Sein Blick ging nach draußen und er betete innerlich, dass der Herr da oben diesem schwül-heißen 22. August 1914 mit einem kräftigen Gewitter und kühlerer Luft den Garaus mache. Die Stadt selbst war trotz Hitze zu einem Tollhaus der Kriegsbegeisterten1 geworden.
Heute traf sich traditionell, zum wahrscheinlich letztem Mal, dieser besondere Stammtischverein in seinem Hause. Ein Teil der Mitglieder war schon anwesend und labte sich an kühlem Bier, welches der Wirt ganz neumodisch mit einer selbstgemachten Zitronenlimonade streckte. Die anfängliche Skepsis schlug nach der ersten Probe in Begeisterung um. Sogar die Frauen sprachen diesem alkoholarmen Sommergetränk in diesen Augusttagen freudig zu.
Die Erfindung des Radlers
„Ich hoffe, lieber Oskar, dass dieses Gesöff nicht unserer schönes Bier verdrängt. Mir ist es etwas zu süß. Für meine holde Berta vielleicht gerade richtig. Aber mit dem Gemisch aus dem Radeberger Pils und der Zitronenlimonade ist dir etwas Gutes gelungen. Prost allerseits“, rief der Standesbeamte Alois Neumann und hob seinen Humpen, um einen kräftigen Schluck zu nehmen.
„Ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken, lieber Alois“, warf der Hotelbesitzer ein. „Erfinder sollen angeblich Radfahrer eines sozialdemokratischen Vereins in Bayern gegen Ende des letzten Jahrhunderts gewesen sein.“2 Kaufmann Theodor Reimann verschluckte sich bei der Erwähnung des Sozi-Gebräus dermaßen, dass er einen Hustenanfall bekam.
„Theodor, manchmal bringen auch Sozis was wirklich Gutes hervor, mit dem man auch noch, ganz kapitalistisch, gute Geschäfte machen kann. Andere Kenner der Szene meinen, dass dieses Biermischgetränk als ‚Shandy‘ an britische Soldaten schon vor 25 Jahren ausgeschenkt worden sein soll“, grinste Alois.
„Das ist ja noch schlimmer. Jetzt kupfern wir auch noch Erfindungen des Kriegsgegners ab. Josef“, rief Theodor Reimann laut nach dem Oberkellner, „ich will jetzt ein Radeberger. Da bin ich sicher, dass ich damit nicht den Feind unterstütze.“ Oskar Becker verdrehte die Augen über so viel Dämlichkeit. „Alle Zutaten sind übrigens hier aus Sachsen. Und in jeder deutschen Gegend nennt man dieses Getränk anders. Also mach hier kein Fass auf.“ Zustimmendes Gemurmel bei den meisten am Stammtisch.
Frauen-Unsitten aus Feindesland
Doch das fochte den Bambusmöbelverkäufer Theodor Reimann aus der Großen Meißner nicht an. „Nein, ich mach hier kein Fass auf, lieber Oskar, aber die Zeitung. In der fand ich einen Leserbrief3 eines wahrhaft deutschen Mannes und Träger des Eisernen Kreuzes von 1870, der sich über das Nachäffen der Pariser Feindesmode bei vielen unserer Frauen aufregte. „Wenn die Damen wüssten, wie scheußlich die meisten von ihnen, besonders die korpulenten, darin aussehen, dann würden sie davon schnell lassen.“
Heinrich Mautsch, der sein Porzellangeschäft gegenüber den „Vier Jahreszeiten“ am Neustädter Markt hatte, bekam bei seinem Eintritt in den Salon die Bemerkungen vom Reimann mit und setzte sich als Vereinsvorsitzender auf seinem Stammplatz an der Spitze der Tafel und erwiderte ruhig „Eines schicke sich nicht für alle. Und außerdem sollten wir hier die Kirche im Dorf lassen. Dieses Nachäffen der Pariser Unmode findet sich jetzt doch nur in Kreisen der unteren Gesellschaftsschichten. Josef, bring mir auch eins von diesem neumodischen Radler.“
Auch die Herren bekommen ihr Fett weg
Der Standesbeamte aus dem Neustädter Rathaus fand weitere Nachäffungen ausländischer Feindesmoden. „Meine Herren, ich finde es immer wieder beschämend, wie sich junge Männer, die in diesen heroischen Tagen vor ihrem Einsatz für Kaiser und Vaterland äußerlich zeigen, wenn sie in aller Schnelle vor dem Fronteinsatz noch heiraten. Das allein ist nicht verwerflich. Aber viele von ihnen tragen einen Stoppel-Schnurrbart, was jedem Schönheitsgefühl zuwider ist. Muss denn der Deutsche alles Ausländische nachmachen, zumal es aus Feindesland kommt?“ Wieder Zustimmung am Stammtisch.
„Dazu zählt übrigens auch das Herumlaufen und Reiten ohne Kopfbedeckung“, rief der Blattgoldfabrikant Hermann Müller dazwischen. „Das widerspricht der guten deutschen Sitte“, sprach der Vereinsvorsitzende und hob seinen Humpen mit dem Radler, was alle tranken, außer Theodor, der wegen dieser undeutschen Sitte wieder auf sein Radeberger umgestiegen war.
Das Unerwartete
Dann öffnete sich die Tür zum Salon und herein trat Carl August Bauer, völlig in Schwarz gekleidet. Stille am Tisch. Auch ihm brachte Kellner Josef seinen Humpen gefüllt mit Radler. „Bring mir noch einen Korn dazu, aber einen Doppelten“, sprach er leise.
„Was ist passiert, lieber Carl August?“, fragte Heinrich Mautsch und ahnte, was nun kommen würde.
„Was soll schon passiert sein? murmelte der Angesprochene. „Vorhin kam der Postbote und brachte die Nachricht, dass unser Franzel…“ Dann brach seine Stimme und Tränen füllten seine Augen. Eine bedrückende Stimmung machte sich breit. Keiner wollte sich mehr über das unmoralische Verhalten von Vaterlandsverrätern bei den Sozis und Feinden aus dem Ausland unterhalten, nicht über unsittliche Frauenkleider, nicht über merkwürdige Schnurrbärte.
Der Vereinsvorsitzende fand als erster seine Stimme wieder. „Lieber Carl August. Du hast unser aller Mitgefühl in dieser schweren Stunde. Es ist das Schlimmste, was Eltern passieren kann, wenn die Kinder vor ihnen diese Welt verlassen. Egal aus welchem Grunde. Wir stehen dir bei.“
Nach einer endlos scheinenden Stille sprach Heinrich Mautsch von den schweren Zeiten, denen die kleinen Geschäftsleute ausgesetzt seien4 und schlug dann vor, in Anbetracht der Ahnung, dass der Tod des Franzel wohl nicht der einzige in ihrer Stammtischrunde bleiben würde, wäre es besser, vorerst nicht mehr zu Witzen, Anekdoten und Gelagen zusammen zu kommen und den Verein aufzulösen. Dem stimmten alle zu.
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Nachrichten vom 22. August 1914
2 siehe Wikipedia unter „Radler“
3 Dresdner Nachrichten vom 21. August 1914
4 Dresdner Nachrichten vom 20. August 1914
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.