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150 Jahre sozialer Wohnungsbau in Dresden

„Mein lieber Pfotenhauer, hier ist eins meiner Bilder, deren Stil ich so liebe.“ Mit einem Weinglas in der einen und dicker Zigarre in der anderen Hand, führte Johann Meyer den Dresdner Oberbürgermeister in die Bibliothek seiner Villa an der Ecke Beust- und Parkstraße1.

In dieser Villa in der Beuststraße lebte Johann Meyer - Foto: gemeinfrei
In dieser Villa in der Beuststraße lebte Johann Meyer – Foto: gemeinfrei

In dieses Allerheiligste ließ der Hausherr nur besondere Gäste und Friedrich Wilhelm Pfotenhauer2, Dresdens erster Inhaber dieses neugeschaffenen Amtes, zählte dazu. Bewundernd blieb der vor dem manieristischem Gemälde3 „Die Nymphe von Fontainebleau“ aus der Schule von Fontainebleau, stehen. „Ich betrachte es immer wieder gern“, warf Meyer ein. „Es ist übrigens eins von zwei bemalten Ableitungen aus dem frühen 17. Jahrhundert. Das andere Exemplar befindet sich in New York.“ Pfotenhauer betrachtete das Bild noch eine Weile, dann drängelte er den Hausherrn mit einem Blick auf seine Taschenuhr zum Gehen.

Großer Bahnhof

Mit der Kutsche fuhren der OB, nebst Johann Meyer und ihren Gattinnen, gut eingemummelt in wärmende Decken, über die Augustusbrücke durch die Haupt- und Königsbrücker Straße zu den ehemals Scheffelschen Feldern der Leipziger Vorstadt. Hier wurden zunächst 100.000 Mark4, welche Johann Meyer 1873 spontan zur Linderung der dringenden Kleinwohnungsbedürfnisse in einer Stiftung5 anlegte, von der Stadt rasch umgesetzt.

Später erhöhte er die Einlage auf 300.000 Mark6. In kürzester Zeit entstanden Wohnungen für arme Arbeiterfamilien, die aus dem ländlichen Raum zu den neu entstandenen Fabriken im Dresdner Norden strömten.7

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Als die Kutsche dort ankam, warteten neben der städtischen Presse schon die Glücklichen, die eine der ersten Wohnungen ergattern konnten sowie Bewohner aus der Hecht- und der Oppellstraße8. Johann Meyer hatte dafür gesorgt, dass der Kinderchor der Kirchgemeinde ein Ständchen darbot und die Küche der Heeresbäckerei Erbsensuppe zur Verteilung an die Armen bereitstellte.

Johann Meyer (* 28. Januar 1800 in Hannover; † 6. Januar 1887 in Dresden) - Foto: gemeinfrei
Johann Meyer (* 28. Januar 1800 in Hannover; † 6. Januar 1887 in Dresden) – Foto: gemeinfrei

Eine Straße für Meyer

In einer kurzen Ansprache würdigte Pfotenhauer Meyers Engagement für die Stadt. Dafür bekam er aus Anlass der Einweihung der neuen Kreuzschule am Georgplatz am 1. Mai 1866 die Ehrenbürgerwürde verliehen. Und als Überraschung erhielt die neue Straße, deren Bebauung im Norden begann und künftig bis zur Fritz-Reuter-Straße führen sollte, seinen Namen.

Meyer geleitete die Stadthonoratioren, neben dem Oberbürgermeister auch den Stadtbaumeister und Architekten dieser Bauten, Karl Lisske, und andere Ratsmitglieder und Stadträte, durch eine der neuen Wohnungen. Diese waren zwar keine Paläste und hatten auch keine riesigen Räumlichkeiten.9 Aber sie waren zweckmäßig, hell, hatten fließend Wasser, ein Klo und waren bezahlbar.

Übergabe

Johann Meyer und OB Pfotenhauer ließen es sich nicht nehmen, die Wohnungsschlüssel der ersten beiden Langhäuser an der oberen Hechtstraße persönlich an die neuen Mieter zu übergeben. Große Aufregung herrschte unter diesen Familien. Insgesamt bewarben sich dafür 206 Bewohner.

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Übergeben wurden zu Ostern 1874 die ersten 16 Wohnungen in unterschiedlicher Größe, und zwar vier zu 75 Thaler10 Jahresmiete, acht zu 56 Thaler und weitere vier zu 30 Thaler.

Die 16 Familien, die nun einzogen, bestanden aus insgesamt 86 Personen, wovon 56 noch Kinder waren. Für sie war es ein wahres Ostergeschenk. Damit leitete er den sozialen Wohnungsbau in Dresden ein, dem andere Unternehmer der Stadt folgten.11

Im westlichen Teil der Buchenstraße stehen noch die Häuser, die zu Zeiten von Johann Meyer dort gebaut wurden. Foto: Archiv
Im westlichen Teil der Buchenstraße stehen noch die Häuser, die zu Zeiten von Johann Meyer dort gebaut wurden. Foto: Archiv

„Herr Oberbürgermeister, Frau Oberbürgermeister, meine Gattin und ich möchten Sie zum Essen einladen. Mein Vorschlag: Damms Etablissement unten an der Königsbrücker Straße, Ecke Bischofsweg. Die Einrichtung hat einen guten Ruf, eine gute Küche und wird von der Witwe Damm geführt.“

„Abgemacht, lieber Meyer“, lachte Pfotenhauer auf. „Meine Kehle ist ganz ausgedörrt. Ich brauche jetzt ein gutes Bier und unsere Damen sicher ein Schöppchen vom edlen Weißen. Kutscher, fahren Sie zu“.

Ein Mäzen für die Stadt

Johann Meyer stammte aus armen Verhältnissen, geboren in Hannover. Als kleiner Junge ging er mit seinen Eltern nach Russland. In Petersburg nahm er eine kaufmännische Lehre auf. Mit Fleiß und Klugheit schuf er sich einiges an Vermögen, welches er sehr umsichtig einsetzte und gründete eine Importfirma für europäische Güter, die im Zarenreich Mangelware waren. Des Weiteren beteiligte er sich am Bau der ersten russischen Eisenbahnen und erwarb von der Regierung einen Großteil des staatlichen Salzmonopols. 1859 wurde sein neuer Wohnsitz die aufstrebende sächsische Residenz. Hier gehörte er zu den wichtigsten Unternehmern Sachsens und betätigte er sich auch als Mäzen. Mehr als 500.000 Mark betrug sein Spendenkonto am Lebensende. Er starb am 6. Januar 1887 in Dresden. Sein Grab befindet sich auf dem Trinitatisfriedhof.

Anmerkungen des Autors

1 Die Villa an der Beuststraße 1 (heute Mary-Wigman-Straße) stammte vom Architekten Hermann Nicolai. Sie wurde 1945 total zerstört und die Ruine 1952 abgerissen.
2 Friedrich Wilhelm Pfotenhauer, Dresdens erster Oberbürgermeister (* 30. November 1812 in Hohenstein; † 2. April 1877 in Dresden)
3 Johann Meyer sammelte Kunst. Sein Schwerpunkt: die manieristische Welt der Malschule von Fontainebleau. Das o.g. Werk wurde von mir nur in seinem Besitz vermutet. Ob die Werke 1945 verbrannten oder sich woanders befanden und noch befinden, ist mir nicht bekannt.
4 heute etwa 710.000 Euro; Quelle: Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen; Deutsche Bundesbank, März 2023
5 In die Stiftung zahlte sein Enkel 1896 weitere 150.000 Mark ein. Noch bis zum 1. Weltkrieg wurden von der Stiftung gemeinnützige Wohnungen gebaut, u.a. von Hans Erlwein an der Dölzschener Straße in Löbtau. Die Stiftung existierte bis 1950 in der DDR.
6 heute etwa 2.130.000 Euro
7 siehe Stadtwiki Dresden
8 heute Rudolf-Leonhard-Straße
9 Dresdner Nachrichten vom 9. April 1874
10 Mit dem 1871 gegründeten Kaiserreich zog die Mark als Zahlungsmittel ein, Thaler gab es aber in einer Übergangszeit weiterhin. Die hier angegebenen 75 Thaler Jahresmiete entsprechen heute 1.657,50 Euro.
11 Der Abschnitt der ursprünglichen Johann-Meyer-Straße mit den Meyer-Häusern wurde 1893 der Buchenstraße zugeschlagen. Im Bombenhagel des 13. Februar 1945 wurden vier der acht Langhäuser zerstört, so dass es heute auf der Johann-Meyer-Straße keine mehr gibt (nur noch auf der Buchenstraße).


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.

Ergänzungen gern, aber bitte recht freundlich.

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