Schon in der Mitte der Görlitzer Straße aus Richtung Alaunplatz hörte man die Musik eines Blasorchesters, welche die Freunde Paul, Friedrich und Franz sich einhenkeln und im Takt marschieren ließ und die Mädchen Anna, Erika und Liesbeth liefen den Jungs an diesem Spätnachmittag des 11. Oktober 1924, einem Sonnabend, im Takt hüpfend, lachend hinterher.
„Ich bin ganz neugierig auf „Alaunplatz in Flammen“, rief Liesbeth, die Schwester von Franz, aufgeregt in die Hände klatschend. Der 18-jährige Schreinergeselle und die anderen waren ganz erpicht auf die Neuheiten aus dem Schaustellergewerbe, die es laut Ankündigung in der Zeitung1 geben solle.
Der Wandel des Alaunplatzes
Der ansonsten eher staubige Exerzierplatz der Reichswehrregimenter aus den oberhalb liegenden Kasernen der Alberstadt wurde nach dem Ende des Weltkrieges 1914-1918 in seinem ursprünglichen Zweck kaum noch genutzt. Die der Sächsischen Armee obliegende Landesverteidigung und deren Autonomie wurden mit dem Wehrgesetz vom März 1921 dem Reichswehrministerium in Berlin übertragen. Den Oberbefehl hatte der Reichspräsident inne. Nach dem Versailler Vertrag durfte die Reichswehr nur noch 100.000 Berufssoldaten haben. Eine Wehrpflicht gab es nicht mehr und somit wurde kaum noch exerziert.1
Der Alaunplatz ging in die Verwaltung der Staatsregierung über. Da das Militär nicht mehr so viele Kasernen brauchte, übernahm die Landespolizei die beiden Gebäude der ehemaligen Schützenkaserne am Alaunplatz.2
Dieser Platz am nördlichen Ende der Alaunstraße nach Überquerung des Bischofsweges wurde ausgangs des 18. Jahrhunderts als „An der Dresdner Haide“ bezeichnet. Etwa ab 1830 nannte er sich „Exerzierplatz“, wegen der Benutzung als Übungsplatz der Infanterie der Königlich-sächsischen Armee. Seit 1862 hieß er dann „Alaunplatz“.3
Eine einmalige Aktion
Die Initiative des Schaustellerverbandes, die im Spätsommer 1924 an den Stadtrat und der Polizeidirektion herangetragen wurde, sollte die arg gebeutelten Vereinsmitglieder, die durch die vielen Hochwasser im Erzgebirge, der Lausitz und in Thüringen geschädigten Karussell- und Schaubudenbesitzer, wenigstens etwas entschädigen. Staatliche Unterstützungen gab es nach der verheerenden Inflation bei deren knappen Kassen nicht.
Und so präsentierten sich die Schausteller vom 11. bis zum 28. Oktober 1924 jeweils von Sonnabend bis Dienstag auf dem ehemaligen Exerzierfeld Alaunplatz4. Das Volk strömte zuhauf heran. Es lechzte nach Unterhaltung und Vergnügen in der sich hier und da schon verbessernden wirtschaftlichen Lage, was sich im Rückgang der Arbeitslosigkeit und der Steigerungen der Löhne und Gehälter ausdrückte.
Die Achterbahn
Kaum hatten die Freunde das obere Ende der Görlitzer am Bischofsweg erreicht, rief Liesbeth, die junge Krankenschwestergehilfin am Diakonissenkrankenhaus, erstaunt: „Was ist denn das für ein Ungetüm? Sowas hab ich noch nie gesehen.“ Den anderen erging es ebenso.
„Ja, meine Dame, das ist was ganz besonderes. Zum ersten Mal in Dresden – eine sogenannte Achterbahn“, antwortete ein junger Mann, wohl um die 20. Die Gruppe bestaunte die geschlungenen Bahnen mit den unglaublichen Kurven über mehrere Stockwerke. Und dann das Kreischen der Leute in den von ganz oben herabsausenden Wagen, welches den Freunden durch Mark und Bein ging. Erika hielt sich die Ohren zu. Liesbeth krallte sich unbewusst in die rechte Hand ihres Bruders Franz. Dem ging es nicht besser. Da er nicht unmännlich oder abartig erscheinen wollte, indem er reflexartig nach der Hand seines besten Freundes Friedrich gegriffen hätte, kam ihm selbige seiner Schwester gerade recht.
„Ich bin Elmar“, stellte sich der anscheinend gut informierte junge Mann vor, dabei die Schuhe wie ein Gardeoffizier zackig mit den Fersen zusammenschlagend und leicht den Kopf nach unten nickend, was Liesbeth erst erstaunt und dann wohlwollend mit einem Lächeln quittierte.
Paul, neben Friedrich der andere Gymnasiast in der Clique, lachte laut bei dieser militärischen Vorstellung auf, was ihm von Elmar einen finsteren Blick eintrug. „Es fehlt nur noch ein Monokel und `ne Pickelhaube. Dann wärst du perfekt.“ Elmar konnte darüber nicht mal schmunzeln, machte kehrt und verschwand im Getümmel der auf den Platz strömenden Leute. Linkes Pennäler-Gesockse, dachte er bei sich und spukte aus.
Die Mausefalle
„Was ist das denn?“, rief Paul erstaunt und zeigte auf ein Zelt mit Bildern von einer Art Irrgarten. „Das ist unsere Mausefalle“, erwiderte ein älterer Herr, dem dieser Irrgarten anscheinend gehörte. „Kommt ruhig rein. Das ist kein Problem. Kostet nur 30 Pfennige.“
„Und wo ist dann das Problem?“ fragte, misstrauisch geworden, der Friedrich. Der ältere Herr lachte schelmisch. „Das Problem ist das Rauskommen.“
Paul, Friedrich und Franz schauten rechts und links vom Eingang und auf die Seiten des Zeltes. „So groß ist das hier auch wieder nicht“, grinste Franz. „Ich sehe da kein Problem. Kommt Jungs, ich will es wissen.“ Die Mädels blieben lieber draußen, holten sich ein Eis und bestaunten das elektrisch betriebene Riesenrad. Auch hier kreischten Jung und Alt, wenn die Gondel sie schnell nach unten brachte. Es kitzelte im Bauch und einige hatten Mühe, dass das vorher Gegessenes nicht den Weg nach oben nahm.
Derweil fanden sich die Jungs gleich zu Beginn des Irrgartens in der Falle wieder. Durch Spiegel und versteckte Gänge sahen sie tatsächlich den Ausgang nicht. Nachdem sie eine Weile umherirrten und es ihnen langsam zu bunt wurde, erlöste sie der ältere Herr grinsend aus der Falle. „Na dann wollen wir mal die Herren Schlaumeier raus lassen.“
Draußen gab es großes Aufatmen und an einer Bierbude einen kühlen Hopfenblütentee, genannt Helles.
Weiter gings durch die bunte Budenwelt. Man bestaunte das lustige Ballspiel „Hänsel und Gretel“, Karussells für Kinder und Erwachsene, die von lebenden Pferden gezogen wurden und die vielen Schieß-, Würfel-, Los-, Fress- und Saufbuden.
Das wachsame Auge des Gesetzes
Plötzlich stieß ein rennender Jugendlicher die Anna fast um. Kurz dahinter eilte ein etwas korpulenter Polizist, kurzatmig japsend mit Trillerpfeife, die er kaum nutzen konnte, hinter ihm her und versuchte, ihn zu greifen. Fehlanzeige. Der junge Mann hatte sportlich etwas mehr drauf. Franz kam dieser Bengel bekannt vor. Er konnte ihn zwar nur von hinten sehen, meinte aber zu seinen Freunden, dass es sein Arbeitskollege Christoph gewesen sein könnte.
Ein anderer Polizist näherte sich der Gruppe und befragte sie darüber, was sie gesehen hätten. Es sei ein Dieb gewesen, der einer Dame die Handtasche gestohlen habe. Mehr als das Anrempeln der Anna und den jungen Mann von hinten hätten auch sie nicht gesehen. Franz behielt seinen Verdacht für sich, zumal er sich nicht sicher war. Der Polizist riet ihnen, auf ihre Taschen und Geldbörsen zu achten. Hier treibe sich nämlich allerlei Gesindel aus den Proletenvierteln der Neustadt, namentlich aus dem Hechtviertel, rum. Dann zeigte er auf den strammen Hintern von Franz. Aus der Hosentasche lugte dessen Portemonnaies hervor. Der Wachtmeister empfahl ihm, die Geldbörse in eine der Vordertaschen zu stecken. Friedrich meinte schelmisch ins Ohr flüsternd zu Franz, dass er sie doch vorn in der Unterhose platzieren könne. Da wäre sie am sichersten. Dem entgegnete Franz grinsend ebenso leise: „Sicher ja, aber nicht vor deinen Griffeln.“
Als Liesbeth zufällig in Richtung eines Kinderkarussells blickte, erkannte sie dort den militärisch strammen Elmar. Leicht röteten sich ihre Wangen ob dieser unerwarteten Sicht. Seine etwas antiquierte Vorstellung am Eingang zum Volksfest rief ein wohliges Gefühl in ihr hervor. Elmar bemerkte sie nicht. Er unterhielt sich mit einem anderen jungen Mann. Als sie sich wegdrehen wollte, sah sie im Augenwinkel, dass sich zu den beiden ein dritter hinzu gesellte. Es war der besagte Handtaschendieb. Liesbeth schwieg irritiert. Darüber würde sie mit Franz reden müssen, aber unter vier Augen.
Nach diesem Schrecken gingen die sechs Freunde in ein Schankzelt, bestellten Bier und Limonade. Franz zahlte. Er war der einzige, der als Schreinergeselle einigermaßen Geld verdiente. Damit überbrückten sie die Zeit bis zum Abendspektakel „Alaunplatz in Flammen“.
Anmerkungen des Autors
1 Die sächsische Armee nach 1918, Wikipedia
2 Mehr zur Nutzung des Alaunplatzes im Stadtwiki Dresden
3 Namensbuch der Straßen und Plätze Dresdens von Adolf Hantzsch, Wilhelm Baensch Verlagsbuchhandlung Dresden, 1905
4 Dresdner Neueste Nachrichten vom 12. Oktober 1924, die eigentliche, die große, Vogelwiese fand in diesen Jahren am Johannstädter Elbufer statt, dort wo heute die Waldschlößchenbrücke endet, mehr dazu auf johannstadt.de
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.