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Die Wege des Herrn sind unergründlich

„Ferdi, nnnoch ein Bier und ’nnn Ko, Ko … Korn“, nuschelte Richard Lehmann eine Bestellung an den Kellner. Dabei folgten seine Augenlider seit einigen Minuten der Schwerkraft von Mutter Erde.

„Richard, lass gut sein“, antwortete dieser. „Für heute reicht es. Deine werte Gattin wartet schon lange mit dem Abendbrot.“

„La, la … lass ssssie warten“, winkte er ab.

Emil, Franz und Walter, seine Freunde, hatten eigentlich auch genug. Aber wenn einer noch konnte, dann wollten auch die anderen am Stammtisch im Gasthaus „Stadt Görlitz“ in der Rhänitzgasse in der Neustadt an diesem Oktoberabend im Jahr des Herrn 1874 nicht nachstehen.

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„Aber dann ist Schluss. Wir haben die Polizeistunde längst überschritten. Und draußen fegt ein starker Herbstwind die letzten Blätter von den Bäumen und finster ist es außerdem.“

„Ja mmmach, Ferdi. Die llletzzzte Rrrrunde. Un sch, sch, schreibs aan.“, lallte der Bahnhofsportier vom Leipziger Bahnhof, Walter Zieschang und sein Kopf plumpste auf den Tisch. Auch den anderen drei fielen die Köpfe nach unten und Franz Wetzel ließ mit seinem Schnarchkonzert inzwischen das ganze Gasthaus erzittern. Kellner Ferdi grinste und schrieb die Zechen an. Bezahlt werde, wie üblich, wenn die Gäste das nächste Mal kämen.

Hotel Stadt Görlitz, zeitgenössische Postkarte
Hotel Stadt Görlitz, zeitgenössische Postkarte

Wo sind wir überhaupt?

Dann weckte er mit großer Mühe und mit Hilfe vom Wirt Georg Gensch die Meute auf, drückte jeden ihre mitgebrachten und mit brennenden Kerzen gefüllten Laternen in die Hände, damit sie wenigsten in dieser dunklen Nacht den Weg nach Hause fänden und bugsierte sie hinaus.

Auf der Straße Rhänitzgasse, Ecke Heinrichstraße, standen die vier etwas orientierungslos herum. Dann erkannte Emil Knausch schräg gegenüber das Hotel „Stadt Leipzig“. „Hier mmmuss ich llang. Dddaaa ist mmmei, mei Ha ha Haus au, au, auf ddder Tttthere re resien scht, scht, schtraaßn.“ Dann schwankte er los.

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Das war auch das Zeichen für Walter, der in die gleiche Richtung, aber auf die Königstraße musste. Richard und Franz hakten sich unter und schwankten die Rhänitzgasse in Richtung Dreikönigskirche, um dann rechts in den Obergraben einzubiegen.

Auch Schutzengel haben mal die Nase voll

Die Schutzengel hatten alle Hände voll zu tun, das trunkene Mannsvolk heimzuführen. Der Engel vom Emil Knausch hatte alle Mühe, ihn mal links und mal rechts zu stützen, damit er bei dem stürmischen Wind nicht in eine der Pfützen, die der inzwischen aufgehörte Regen auf der Heinrichstraße hinter lies, hinein flog. Die Laterne schaukelte. Das eingelegte Glas schützte die Kerze, so dass sie erleuchtet blieb. Dann erreichte Emil die Theresienstraße 5 und ging hinein. Er wohnte zwar in Parterre, aber sein Drall ließ ihn durch den Hausflur und hinten zur Hoftür wieder hinaus schießen. Dann verließen ihn nicht nur der Schutzengel, sondern auch sein Gedächtnis.

Am nächsten Morgen kreischte die Kaufmannsgattin Elfriede Hendler auf, als sie in den Stall im Hof kam. Dort lag Emil friedlich grunzend im Mist an einer Sau gekuschelt, der diese Art der Fürsorge wohl gefiel.1 Elfriede lief sofort zur Wohnung der Knauschs und berichtete erregt das Auffinden des verlorenen Gatten. Die Gattin und die beiden Kinder liefen in den Stall und lachten lauthals über das, was sie da sahen. Die gelöste und heitere Stimmung zog auch andere Hausbewohner an. „So kommst du mir nicht in die Wohnung. Du stinkst widerlich. Alles ausziehen und waschen“, rief Gattin Selma energisch. „Und jetzt alle hier raus. Das ist nichts für Kinderaugen und Nachbarsneugier.“ Doch das Gesehene machte sofort die Runde im Viertel.

Der Fenstersturz zu Neustadt

Am dramatischsten hatte es den Lackierer Franz Wetzel aus dem Obergraben Nr. 4 erwischt. Nachdem ihn sein Schutzengel mit Müh und Not ins Haus bugsiert hatte, krabbelte er auf alle Vieren die Treppe hoch. Sein Ziel: die kleine Dachkammer im dritten Stock. So weit kam er aber nicht. Nachdem er mehrmals auf dem Weg zum ersten Absatz wieder nach unten rutschte und die Bewohner des Parterre wütend wegen des Krachs herauskamen und ihn beschimpften, versuchte er diese zu beruhigen. Mit Pst-Flüstern versuchte er einen erneuten Aufstieg zum ersten Absatz, was auch gelang. Ihm war inzwischen so warm geworden, dass er seinen Mantel aufriss und dabei die Knöpfe verlor, die die Treppe nach unten rollten. Dann öffnete er das Fenster, lehnte sich hinaus, um sich die kühle Luft der windigen Oktobernacht um das Gesicht wehen zu lassen. Dabei verlor er das Gleichgewicht und fiel nach unten.1

Irgendwie hatte sein Schutzengel wohl geahnt, dass sein Dienst noch nicht zu Ende war. Und so ließ er just in dem Moment die dralle Erna Schmitt aus dem zweiten Stock vom Plumpsklo im Hof aufstehen und zur Hintertür gehen. So landete der schmächtige Franz auf Erna, die nach hinten kippte und dank ihrer guten Polsterung bis auf ein paar blaue Fleck unverletzt blieb.

Die noch vom vorhergehenden Krach des besoffenen Lackierers wachen Hausbewohner eilten in den Hof und sahen die beiden in recht unmoralischer Lage. Der Erna war der plötzlich auf sie liegende Franz nicht unrecht. Sie hatte schon länger ein Auge auf den Junggesellen geworfen. Und so sorgte der Schutzengel dann noch für ein gottgefälliges Happyend und für sich selbst um einige Pluspunkte im innerbetrieblichen Wettbewerb der himmlischen Heerscharen.

Die strafende und die lachende Gattin

Dem Schuhmachergesellen Richard Lehmann aus dem Obergraben 11 erging es nicht so glimpflich. Als dieser schwankend und lallend seine Wohnung im 4. Stock erreichte, erwartete ihn schon seine holde Ehefrau Eusebia mit grimmigem Blick und den Fäusten in den Hüften. Eine Schimpfkanonade brach über den Gatten herein. Richard wusste das schon vorher. Egal ob er ein Bier trank oder 10, seine Frau meckerte sowieso. Sie langweilte sich allein zu Haus.

Es fehlte ihr an Kinder. Der Herrgott hatte ihnen bisher keine geschenkt. Da könnte ihm der Schutzengel wenigstens mal helfen, dachte er. Aber das brächte aber auch nichts, denn er habe vom Pfarrer der Dreikönigskirche gehört, dass Engel geschlechtslos sein sollen. Und so könne er sein Schicksal und die Schimpftiraden seiner Frau nur stoisch im Suff ertragen.

Am nächsten Morgen stand das Frühstück sowieso wieder auf dem Tisch. Vielleicht lasse er seine Eusebia, des lieben Hausfriedens wegen, doch bei einem der reichen Kaufleute an der Großen Meißner Straße putzen oder kochen oder sonst was machen. Hauptsache, sie wird friedlicher.

Übrigens, vom Bahnhofsportier vom Leipziger Bahnhof hörte man nichts. Sein Schutzengel brachte ihn wohlbehalten in den dritten Stock auf die Königstraße 3, wo ihn dessen Gattin lachend entgegen nahm und ins Bett hievte. Seine vier Kinder schliefen schon.

Die Wege des Herrn sind halt unergründlich.

Anmerkungen des Autors

1 Dresdner Nachrichten vom 11. April 1874


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.

Ergänzungen gern, aber bitte recht freundlich.

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