Ein Schrei durchhallte die Küche im „Radeberger Bierlokal“ im zweiten Hinterhof der Neustädter Hauptstraße 11.1 Und dann flog ein Rührlöffel an das Rauchabzugsrohr des großen Ofens, auf dem bereits eine Gemüsesuppe, ein Schweinebraten und Kartoffeln vor sich hin köchelten. Der gesamte Raum war von umherwirbelnden Ruß durchdrungen.
Küchenhilfe Gertrud, die am Abwasch stand, drehte sich erschrocken um und der Kochlehrling Eduard versteckte sich unter dem Arbeitstisch am Fenster. Köchin Anna Nebentisch, deren herrische Art gefürchtet war, schnappte nach Luft und bekam einen Hustenanfall, da sich etliche Rußpartikel in ihren Mund verirrten.
Das Malheur
„Was soll die Scheiße“, rief sie, ohne auf die Etikette zu achten, erbost aus. „Konnten diese Taugenichtse von Schornsteinfeger nicht Bescheid sagen?“ Ihr reichte es an diesem Freitag im November 1902. Der Tag begann schon mit einem Streit mit ihrem Gatten wegen irgendwelcher Nichtigkeiten, die ihr nicht passten. Dann wäre sie beinahe die Treppe im zweiten Stoch heruntergeflogen. Und dann das hier.
Eduard, der aus seinem Schutzraum unter dem Tisch hervorkroch, bekam beim Ansehen der Köchin einen Lachanfall, den Anna mit einer kräftigen Maulschelle abrupt beendete.
Wirt Ernst Selle, der wegen des Lärms herbeieilte, blickte erstaunt in die rauchgeschwärzte Küche. Als er seine Köchin sah, lachte er ebenfalls los. Anna wagte es aber nicht, dem Wirt eine reinzuhauen, obwohl es in ihren Fingern kribbelte.
„Was gibt’s da zu lachen? Siehst du nicht, was diese Dachratten angerichtet haben? Konnten die nicht Bescheid geben, dass sie heute den Kamin kehren würden?“, kreischte Anna mit in den Hüften geballten Fäusten den Wirt an.
„Meine liebe Anna“, begann der Wirt in versöhnlichen Tönen, immer wieder von Lachen unterbrochen, in das auch die anderen im Raum und der inzwischen herbeigeeilte Kellner Franz eingingen. „Schau dich mal im Spiegel an“, und sein Lachen wollte nicht enden. „Siehst aus, wie eine Hexe aus dem Mordgrund. Fehlt nur noch der Flugbesen.“
Sofort eilte Anna zu dem Spiegel im Vorraum und stieß einen spitzen Schrei aus. Dann befreite sie notdürftig ihr Gesicht und die Schürze vom Ruß.
Dresden litt unter großer Rußbelästigung
Über der Stadt hing bei diesem nebligen, windarmen Novemberwetter eine stinkende Rauchglocke. Die vielen Heizöfen produzierten viel Ruß, der sich im Elbtalkessel fest hielt. Da half auch das Kehren der Essen nichts. Die Menschen in der Stadt husteten und krächzten. Wer nicht raus musste, blieb in seiner Wohnung. Und dort verstärkte das Heizen notgedrungen die schlechte Luft in der Stadt. Lungenkrankheiten verbreiteten sich vor allem unter den ärmeren Schichten.2 Es bräuchte nur etwas Wind und dann löse sich das Problem von allein, meinten die Stadtoberen und die Schornsteinfegermeister. Nur gut, dass es um diese Zeit recht wenige Touristen gab.
Die Folgen des Malheurs
In der Küche des „Radeberger Bierlokal“ trat Ernüchterung ein, als Schankwirt Ernst Selle den Schaden besah. Das Fegen der Schornsteinreiniger hatte den Ruß an den undichten Stellen bei der Einführung des Ofenrohrs in die Esse in die Küche gedrückt und dort die Luft mit seinen Partikeln verdunkelt. Dann legte sich der Rauch über Regale, Tische und dem Fußboden. Auch die Suppe, die Kartoffeln und der Schweinebraten bekamen einen Hauch von Räucherei ab.
„Das kann man niemanden mehr anbieten“, rief die Köchin Anna erschrocken. „Und in diesem Dreck ist Arbeiten unmöglich.“ Dann riss sie die Fenster auf, damit sich ein Teil des Rußes nach draußen verziehen konnte.
Das passte aber der Witwe Lange aus dem 3. Stock nicht. Die wetterte sowieso schon gegen die wechselnden Küchengerüche und veranstaltete fast täglich einen Kleinkrieg mit Anna. Der endete meistens mit der Bemerkung der Köchin, dass sich die Witwe nicht so haben soll. Schließlich gäbe sie ihr Tipps, was sie mal kochen könnte, wenn sie kochen kann. Und die seien sogar kostenlos. Daraufhin verschwand die Witwe Lange unter Fluchen und Türknallen in ihrer Hornzie3. Aber an diesem Tag brachte der nach oben ziehende Ruß das Fass zum Überlaufen, denn da lüftete sie am offenen Fenster ihre Betten.
Wutentbrannt erschien sie wie eine Furie in der Küche in Paterre, nahm eine Pfanne aus dem Regal und haute damit dem Wirt, der das Pech hatte, ihr am nächsten zu stehen, eine über den Nischel4. Wutentbrannt schnappte sich dieser ein Küchenmesser und wollte damit auf die keifende Witwe losgehen. Die Köchin Anna konnte im letzten Moment verhindern, dass sich auch noch Ruß mit Blut vermischte. Kellner Franz eilte mit einer Flasche Korn herbei, um die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen.
Missachtung einer städtischen Verordnung
Dann stellte der Wirt den inzwischen von Dach und Boden heruntergekommenen Schornsteinfeger. Warum er sein Kommen nicht im Hof und Treppenhaus laut ausgerufen habe. Auch das Beenden seiner Ruß-Aktion habe er nicht erklärt. „Keine Zeit“, war seine gemurmelte Auskunft und zudem hielt noch frech die Hand auf. Der Wirt lief ob dieser Unverschämtheit rot an. Ehe er explodierte verschwand der Essenkehrer.
Das ließ sich der Wirt nicht gefallen und begab sich ins Vorderhaus in den zweiten Stock. Dort wohnte der Rechtsanwalt und Notar, Justizrat Richard Opitz, dem er den Sachverhalt schilderte. Auch plädierte er auf Schadenersatz für die verschmutzte Küche und das verdorbene Essen vom Bezirksschornsteinfeger, in dessen Diensten der Essenkehrer stand.
Der Justizrat, im Prinzip schon außer Diensten, freute sich über diesen Fall, der ihm seine Langeweile der Pension unterbrach und noch ein Zubrot versprach.
Es gab die Vorschriften der ortspolizeilichen Bestimmungen vom 12. Oktober 1900 gegen das Unwesen der Schornsteinfeger5. Darin wurde im § 6 festgelegt, dass die Bezirksschornsteinfeger dafür verantwortlich seien, ihre Kehraktionen rechtzeitig anzukündigen und am Kehrtag den Beginn und das Ende des Kehrens laut im Hof und im Treppenhaus anzukündigen. Dazu müssen diese Kehrleute das Haus in sauberer Kleidung betreten. Der sich unten im Schornstein angesammelte Ruß muss zwischen 8 und 30 Stunden nach dem Kehren entnommen werden. Er kommt dann in einen vom Grundstücksbesitzer bereitgestellten Metallbehälter.
Und was den Wirt besonders freute, war, dass nach dem § 7 dieser Verordnung ein Handaufhalten zur Erlangung eines Entgeltes vom Hausbesitzer oder Mieter einer Wohnung strengstens verboten sei.
Während es am heutigen Tag aus besagten Gründen keine Speisen im „Radeberger Bierlokal“ gab, weil Wirt Ernst Selle, Köchin Anna, Küchenhilfe Gertrud und Kochlehrling Eduard die Küche, die Möbel und das ganze Inventar vom Ruß befreien mussten, setzte Rechtsanwalt Richard Opitz, sich dabei einen Glas feurigen Roten gönnend, die Anklageschrift auf.
Anmerkungen des Autors
1 Heute befindet sich im Vorderhaus neben dem Durchgang zu den Höfen das Restaurant St. Petersburg.
2 Dresdner Rundschau vom 13. Oktober 1900
3 Sächsischer Ausdruck für eine kleine Wohnung
4 Sächsischer Ausdruck für Kopf
5 Neueste Nachrichten vom 29. Juli 1902
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.