„Spült euch erst einmal die feuchtkalte diesige Luft aus euren Kehlen“, rief Richard Schubert, der Wirt vom „Schützenpark“ seinen Gästen zu und stellte ihnen große Gläser mit dem begehrten Gerstensaft auf den Tisch. „Wem es noch zu kalt ist, der bekommt von mir einen Korn dazu. Natürlich auf Kosten des Hauses.“ Dass ließen sich die fünf Männer am Stammtisch nicht zweimal sagen. Und so bibberten sie zum Schein, bis die Gläser vor ihnen standen, prosteten dem Wirt zu, leerten sie in einem Zug und krönten die Labsal mit einem genüsslichen „Ahhh“.
Soldatenleid
Die Runde traf sich fast täglich in ihrem Gasthaus an der Alaunstraße, Ecke Bischofsweg mit Blick auf den Alaunplatz, so auch an diesem Freitag in der letzten Dekade des November 1912. Droschkenbesitzer Gustav Hähner blickte aus dem Fenster und beobachtete die Exerzierübungen einer Militäreinheit1. „Da bekomme ich gleich noch ein Bibbern, wenn ich die armen Burschen dort drüben bei diesem nasskalten Nieselwetter marschieren sehe.“
„Kein Mitleid bitte, lieber Hähner“, erwiderte der Militärbauinspektor Kurt Buchner. „Soldaten müssen das aushalten. Im Krieg wird der Kampf nicht einfach unterbrochen, nur weil ein paar Regentropfen vom Himmel fallen.“
„Warum nicht?“, frotzelte Oberfeuerwehrmann Max Mahnert. „Im Feld hebt dann der Adjutant des befehlenden Generals die weiße Flagge und signalisiert damit der gegnerischen Seite, dass seine Soldaten Pause machen, bis der Regen aufhöre. Sie rücken dann in die Unterstände ein, erhalten einen heißen Grog mit ordentlich Schnaps, eine frisch gebratene Wurst und eine Zigarette als Nachtisch. Dann heißt es ‚an der Matratze horchen‘, bis es von oben nicht mehr tröpfelt.“ Alles lachte. Max war bekannt für seine bildhaften Darstellungen, auch wenn er von Bränden, Wasserrohrbrüchen und Rettungsaktionen von Selbstmördern berichtete. Darauf brachte der Wirt eine weitere Runde Bier mit Kompott.
Durst macht hungrig
„Was schreibst du denn da?“, fragte Polizeisergeant Emil Gerlach misstrauisch den neben ihm sitzenden Redakteur der Dresdner Nachrichten, Rudolf Herrlein. „Ich möchte mich nicht morgen in deinem Schmierenblatt wiederfinden.“
„Quatsch, Emil. Ich finde nur die Kriegsfrontbeschreibung vom Max amüsant. Das darf für die Nachwelt nicht vergessen werden.“
„Und nicht vergessen werden darf die neue Runde, ehe das Bier schal und der Schnaps warm werden“, rief Gustav Hähner dazwischen.
Was gibt’s denn heute in deiner Küche?“, rief der Redakteur dem Wirt Richard Schubert zu.
„Katzenragout und Rattensteak sind aus. Wenn ihr darauf Appetit habt, müsst ihr rüber ins ‚Kriegerheim‘ gehen. Als Sonderangebot soll es dort heute gehackten Gendarmensack geben“, witzelte er.
„Was im Moment in meiner Küche da ist“, und wurde wieder ernst, „sind eine Einlaufsuppe und…“. Weiter kam er nicht, denn alle am Tisch brachen in schallendes Gelächter aus, was der Wirt zunächst nicht verstand.
Marthas Einlauf Spezial
„E i n – l a u f – suppe”, prustete Oberfeuerwehrmann Max los und verschluckte sich am Bier so, dass er einen hochroten Kopf bekam und ihm die Augen aus dem Kopf zu kullern drohten. Sein Nachbar, der Schreiberling Rudolf, trat rasch hinter ihm und umschlang fest dessen Brustkorb. Dann ließ der Hustenanfall nach und Max begann wieder zu lachen. „Nee, Einlaufsuppe, nee. Ich kann nicht mehr. Müssen wir da jetzt unsere Hosen runter lassen und du kommst mit einem Trichter und träufelst die Erbsensuppe in uns ein?“ Inzwischen kapierte auch der Wirt die Doppelbödigkeit seiner Suppenbezeichnung und lachte mit.
„Also, mein lieber Max, nur mal so zur Erklärung. Die Suppe wird dir nicht hinten eingeflößt, sondern ganz traditionell über deine Gusche. Es handelt sich um eine gute Rindfleischbrühe, mit Wurzelwerk gekocht. Darin wird am Ende eine Masse aus Eiern, Mehl, Salz und Muskat in die kochende Brühe eingeträufelt und mit dem Schneebesen sachte verrührt, bis sie stockt.2 Daher der Name. Dann kommt noch Petersilie oder Schnittlauch drauf. Fertig. Schmeckt richtig gut, was meine Martha da in der Küche zaubert. Bei diesem Wetter ist das genau das richtige. Also, wer von euch möchte einen Einlauf?“, fragte schmunzelnd der Wirt. Alles lachte wieder und alle hoben die rechte Hand.
Das Leid der Linkshänder
Nicht alle, denn Kurt Büchner war Linkshänder. Das versuchten ihm von frühester Kindheit an seine Eltern und die Lehrer in der Schule auszutreiben. Für die Eltern und dem Herrn Pastor war die linke Hand etwas Böses, Schmutziges, Teuflisches. Nur die rechte war gut. In der Schule bekam er des Öfteren von den Lehrern mit der Rute eins auf die linke Hand, damit er die rechte benutze. Aber in späteren Jahren setzte sich doch die linke Hand durch. Am Stammtisch störte sich niemand daran.
Nach der Suppe bestellten sich alle noch eine Wurst mit Kartoffelsalat. Und Gustav fragte in die Runde, ob jemand wüsste, seit wann es eigentlich Würste gäbe.3 Fast alle zuckten mit den Schultern. Nur Redakteur Rudolf Herrlein grinste. Ehe er die Frage beantwortete, bestellte er noch eine weitere Runde Bier mit jeweils einem Verdauerli.
Seit es Würste gibt
„Gute Frage, lieber Gustav. In unserer Redaktion hat einer meiner Kollegen gerade einen Artikel darüber geschrieben, der demnächst erscheinen wird. Da soll von Würsten schon in der Odyssee vom alten Homer die Rede sein. Also vor mehr als 2.700 Jahren, wenn ich noch zählen kann. Dort ist von Ziegenmägen die Rede, die mit Fett und Blut gefüllt und dann gebraten wurden. Also quasi der Urahne unserer Bratwurscht.“
„Naja, ob die mir schmecken würden, so ganz ohne gutem Fleisch? Ich weiß nicht“, grummelte Emil Gerlach, der Polizist und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Bierglas.
Derweil fuhr Rudolf dozierend fort und erklärte, dass die alten Griechen solche gebratenen Würste neben Eiern und Austern als Vorspeise servierten. Und als Hauptspeise, besonders bei den Symposien4 der reicheren Schichten, wurden gebratene Schweine, die mit Würsten gefüllt waren, als Triumpf der Kochkunst serviert. Und Riesenwürste wurden im Mittelalter bei besonderen Festivitäten durch die Städte getragen und an den Fürstenhöfen mit allerlei Fleisch und teuren Gewürzen gefüllt, verdrückt.
So viel Wissensvermittlung musste erst einmal verdaut werden. Und so klang dieser Freitag im letzten Novemberdezennium mit weiteren Runden im „Schützenpark“ aus.
Anmerkungen des Autors
1 Der Alaunplatz diente bis 1918 als Exerzier- und Paradeplatz für die Soldaten der sächsischen Armee der oberhalb davon gelegenen Kasernen der Albertstadt.
2 Sächsische Dorfzeitung und Elbgaupresse vom 12. Dezember 1912
3 Dresdner Nachrichten vom 16. Dezember 1912
4 In der Antike war es die Bezeichnung für ein Gastmahl, das mit rituellen Waschungen zu Ehren des Gottes Dionysos eingeleitet wurde Der Gastgeber bot künstlerische Darbietungen an, man löste Rätsel und führte geistreiche Gespräche zu einem bestimmten Thema. Es gab aber auch erotische und sexuelle Ausschweifungen.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.