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Die Weihnachtssau von Dresden

Oskar Zwick trat aufs Gaspedal, löste die Kupplung des Mercedes-Lastautos und fuhr laut jubelnd aus dem Gelände des Schlachthofareals im Ostragehege. Sein Beifahrer und Kumpel Max Krug stimmte in den Jubel ein und klopfte dem Dritten im Bunde, Ernst Illgen, für seine Idee anerkennend auf den Rücken. Im Rückspiegel war nichts Auffälliges zu sehen.

Schlachthof im Ostragehege - zeitgenössische Postkarte
Schlachthof im Ostragehege – zeitgenössische Postkarte

„Fahr nicht zu schnell“, rief Max. „Sonst werden noch die Büttel auf uns aufmerksam.“ Oskar verstand und reduzierte die Geschwindigkeit. Von der Markthalle für Schweine1 ging es an diesem Montag nach dem 3. Advent am späten Vormittag über die Schlachthof-Allee, dem Ostraufer entlang in die Kehre der Devrientstraße rein, rüber über die Marienbrücke in die Neustadt, dann zu Kellers Restaurant in der Fritz-Reuter-Straße 11, Ecke Helgolandstraße.

Dass Max seinen Freund eindringlich aufforderte, das Tempo zu reduzieren, lag auch an der Ladung im LKW. Im Laster quiekte und trampelte eine mit Lederriemen angebundene lebende Sau, der diese Art von Reisen gar nicht gefiel.

Kellers Restaurant - zeitgenössische Postkarte
Kellers Restaurant – zeitgenössische Postkarte

Am Restaurant wurden sie von Fleischermeister Emil Giesel in Empfang genommen, der der Sau etwas Wasser und Fressen mit einem Beruhigungsmittel darin hinstellte. Letzteres tat dann auch seine Wirkung.

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Die Goldenen Zwanziger waren noch nicht in Sicht

Der Stammtisch in Kellers Restaurant hatte die glorreiche Idee, dass das diesjährige Weihnachtsfest nicht so armselig ausfallen dürfe, wie das letztjährige. Auch wenn sich die Wirtschaft in einigen Branchen von den Nachkriegswehen und der großen Inflation zu erholen begann, nahm die Arbeitslosigkeit in Dresden und ganz Sachsen trotzdem weiter zu.2

Die Freunde vom Stammtisch traf das Elend in unterschiedlicher Weise. Max Krug, der Kutscher, ging stempeln3. Sein Freund Oskar Zwick als Kraftfahrer war ebenfalls ohne Arbeit und verdingte sich sporadisch mit schwarzen Gelegenheitsjobs. Selbst Hausschlachter Ernst Illgen hatte in dieser eigentlichen vorweihnachtlichen Saison des bäuerlichen Schlachtens nur wenige Aufträge. Fleischermeister Zwick und der Gastwirt von Kellers Restaurant, Ludwig Berger, klagten über hohe Kosten und sinkende Einnahmen4.

Der Einzige, der halbwegs ohne Sorgen auf die kommenden Festtage blickte, war der Eisenbahnschaffner Reinhold Feige. An jedem einzelnen hing zudem eine Gattin und mehrere Kinder, die ernährt werden wollten. An Geschenken unterm Weihnachtsbaum war nicht zu denken.

Dresdner Nachrichten vom 23. Dezember 1924
Dresdner Nachrichten vom 23. Dezember 1924

Die Idee

Da war innovatives Denken und Handeln gefragt. Bettel auf der Straße und Anpumpen bei Verwandten und Nachbarn kamen nicht in Frage. Bis auf den Fleischermeister und den Kneiper wüssten die anderen nicht, wie sie das geborgte Geld zurück zahlen könnten. Um das Denken anzuregen, gab der Wirt eine Runde Korn aus.

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Und so kam Kraftfahrer Oskar Zwick die verrückte Idee, das Essen für die Festtage dort zu besorgen, wo es scheinbar im Überfluss vorhanden war, nämlich im Schlachthof im Ostragehege. Begeisterung über diesen Vorschlag sah anders aus. Statt erwartetem Jubel und Schulterklopfen erntete Oskar nur Kopfschütteln und Abwinken. Als er auch noch vorschlug, nicht nachts in die Kühlhäuser einzubrechen um Schweinehälften zu stehlen, sondern am hellerlichten Tag in die Markthalle für Schweine reinzugehen und eine Sau lebend zu entführen, wurde er von den meisten am Tisch für dämlich erklärt.

Doch der ruhigste am Tisch, Schaffner Reinhold, klopfte mit seinem Bierglas auf die Tischplatte und sagte, dass er die Idee gar nicht so übel fand. Das brachte die anderen zum Umdenken. Nach einigem Hin und Her wurde die Aktion „Weihnachtssau“ beschlossen.

Die Entführung

Am Vormittag des besagten Montag nach dem 3. Advent begab sich der Hausschlachter Ernst Illgen am Postplatz in die Straßenbahn der Linie 2 zum Schlachthof im Ostragehege. Dort sah er sich in der Schweine-Markthalle in der Nähe der sich dort seit 1910 befindlichen Endhaltestelle der Straßenbahn um. Es war schon ein größeres Gedränge, da die Fleischer der Stadt am Wochenanfang ihre Schweine, Rinder, Schafe und das Geflügel orderten. Und vor Weihnachten war das Begängnis noch einmal so groß.

Ernst Illgen schlenderte gemütlich durch die Halle und lauschte dem einen oder anderen Fleischer bei ihren Einkaufsgesprächen. Und dann offenbarte der Herr der himmlischen Heerscharen oder ein Engel der Innung der Hilfesuchenden oder irgendeine Eingebung aus den Tiefen des Universums ihm die Lösung seines Problems. Und so hörte er gerade noch rechtzeitig, wie ein riesiger Kerl von Fleischermeister den Verkäufer des Borstenviehs nach der Bezahlung selbiges darüber in Kenntnis setzte, dass er die Sau nach dem Mittag gegen eins von seinen Gesellen abholen lasse. Daraufhin ergriff der Verkäufer einen Eimer mit roter Farbe und pinselte auf dem Rücken der vor sich hindösenden Sau den Namen „Wolf“.

Anschließend ging Illgen mit seinen Kumpanen in die nahe Kneipe „Onkel Toms Hütte“, die an diesem Vormittag schon gut besucht war und genehmigte sich einen Humpen Helles.

Onkel Toms Hütte - zeitgenössische Postkarte
Onkel Toms Hütte – zeitgenössische Postkarte

Die Abholung der Sau

Nach einer guten Stunde machte sich die Bande auf den Weg in die Schweinemarkthalle. Ernst erklärte dem Verkäufer, dass ihnen der Meister Wolf die Abholung der Sau für sofort aufgetragen habe. Ein Lehrling führte die drei zum Gehege und übergab das Vieh.

Irgendwas passte der Sau aber nicht. Störrisch weigerte sie sich, mitzugehen. Vielleicht ahnte sie, dass zwei von ihnen nicht vom Fach waren oder sie hatte keine Lust, den warmen Stall im Hintergrund der Markthalle gegen die Dezemberkälte auf den Straßen der Landeshauptstadt einzutauschen. Wäre der Hilfsfleischer Ernst nicht dabei gewesen, hätte die ganze Aktion in die Hosen gehen können. Ernst Illgen erwies sich als echter Sauflüsterer. Jedenfalls beruhigte sich das Schwein und trabte auf die Laderampe des LKW. Dort ließ sie sich ohne Schwierigkeiten und Ausraster mit den Lederriemen festgurten.

Die Schlachtung

Die drei Entführer erhielten nach ihrer Ankunft in Kellers Restaurant vom Wirt Ludwig Berger je einen Schnaps und ein Bier und dann ging es der Sau an den Kragen. Mit Hammer und Bolzen beförderte Fleischermeister Giesel das Vieh ins Jenseits, stach die Halsschlagader auf und Lehrling Franz musste das Blut in einer großen Schüssel auffangen und kräftig rühren, damit es nicht klumpte. Dann wurden die Borsten abgebrannt und der Körper der Sau auf eine Leiter gehievt. Meister Giesel öffnete dann den Körper und entnahm die Innereien und Gedärme, die die Helferinnen aus den Familien der Bande säuberten und für die Wurstzubereitung vorbereiteten.

Dann gab es die nächste Schnapsrunde. Ernst Illgen und Lehrling Franz zerlegten fachmännisch unter den prüfenden Augen von Meister Giesel das Schwein. Einiges kam in den Waschkessel des Waschhauses im Hof von Kellers Restaurant. Daraus entstanden dann Leber- und Blutwürste und Saumagen. Die Wurstsuppe wurde später zu einem Teil an die Ärmsten in der Nachbarschaft verteilt. Ein anderer Teil des Schweines wurde als Hackfleisch zubereitet, kam in die Därme und in die Räucherkammer bei Fleischer Giesel.

Die am Clou beteiligten Familien erhielten ihre Anteile vom Rückenspeck, vom Kamm, vom Karree, von der dicken Rippe, von der Oberschale und den Würsten. Der Fleischermeister bekam die Schweinerippchen, einiges vom Bauchfleisch, der Schulter und den Edelstücken vom Filet, von der Oberschale, der Nuss und die Haxen.

Der Wirt bedingte sich den Kopf aus und einiges von den Edelteilen für den Festtagsbraten. Alle Beteiligten waren zufrieden, Weihnachten gerettet.

Verräterische Signale

Naja, beinahe. Wären da nicht die verführerischen Gerüche aus dem Waschhaus, die Düfte von Schweinebraten und Bockwürste. Zwar wurde die Nachbarschaft mit Weihnachtsgaben ruhig gestellt, aber das eine oder andere Plappermaul konnte die Gusche nicht halten. Die eine war neidisch auf den vermeintlich größeren geräucherten Schinken der Nachbarin, eine andere gönnte der Obermieterin nicht das bisschen Wurstbrühe und die dritte schwärmte beim Bäcker von der tollen geräucherten Bratwurst vom Wirt.

Und so drangen der Duft bzw. die Nachricht von der Schlachtung bis ins Büro des 13. Polizeibezirks auf der Hechtstraße 39. Oberkommissar Hempel beauftrage seinen Kriminalhauptwachtmeister Ewald Berger, dem Duft bzw. der Angelegenheit nachzugehen. Zumal eine Anzeige aus dem Polizeipräsidium Dresden vorlag, nach der am Montag nach dem 3. Advent aus dem Schlachthof im Ostragehege zwischen vormittags 10 Uhr und nachmittags 1 Uhr eine lebende Sau mit dem Kennzeichen Wolf auf dem Rücken entwendet wurde.

Und so machte sich der Hauptwachmeister Berger am 23. Dezember 1924 auf den Weg in Kellers Restaurant. Schon nach dem Eintritt empfing ihm dicke Luft. Er schnupperte mit geschlossenen Augen und lächelte. Seine Nase war im Revier eine Berühmtheit. Nicht wegen der Größe, sondern wegen der Fähigkeit, Düfte sehr sicher zu analysieren. Er war im Prinzip der Schnüffelhund der Antonstadt und der Leipziger Vorstadt. Im Gegensatz zu den Vierbeinern konnte er sprechen.

Die Untersuchung

Aus dem Qualm der Zigarren-, Pfeifen- und Zigarettenraucher konnte er eindeutig Schweinebraten aus der Oberschale und frisch geräucherte Knackwürste herausriechen. Wirt Ludwig Berger, der zwar den gleichen Nachnamen hatte, aber mit dem Polizeischnüffler nicht verwandt war, ahnte nichts Gutes. Lächelnd mit ausgebreiteten Armen ging er auf den Gesetzeshüter zu.

„Was führt denn den Herrn Kriminalkommissar in mein bescheidenes Etablissement? Darfs ein Bier oder eine Wurst mit Brötchen und köstlichem Senf sein?“

„Nichts für ungut, lieber Berger. Ich bin zum einen bis jetzt immer noch Kriminalhauptwachmeister, zum zweiten im Dienst, zum dritten nicht bestechlich und zum vierten interessiert mich eigentlich neben ihrer Bockwurst noch anderes Schweinisches.“

Dabei musterte er den immer unruhiger werdenden Kneiper und amüsierte sich innerlich, dass er höchstwahrscheinlich im Wespennest der Schweinebande gelandet war.

„Also Berger, führen Sie mich in die Küche und in ihr Eislager.“ Aber da war von Schweinehälften und Edelfleisch nebst der Rückenaufschrift „Wolf“ nichts zu finden. Nur einige Töpfe mit Schweinebraten und ein paar unterschiedliche Würste an den Haken. Der Polizist wurde unsicher. Bisher ließ ihn seine Nase noch nie in stich. Sollte er sich so geirrt haben? Er macht kehrt und verließ knurrig das Restaurant.

Die Gäste verfolgten still und abwartend diese Szene. Nachdem der Polizeihauptwachmeister die Kneipe verlassen hatte, brandete Beifall auf und der Wirt spendete eine Runde Korn. Gesegnete Weihnachten und ein besseres 1925 wünschten sich alle.

Anmerkungen des Autors

1 Der Schlachthof im Ostragehege wurde zwischen 1906 und 1910 unter der Leitung des jungen Stadtbaumeisters Hans Erlwein errichtet.
2 Dresdner Nachrichten vom 25. Dezember 1924
3 Ausdruck für die Abholung von Arbeitslosenunterstützung; dafür wurde täglich bis wöchentlich in einer Karte die Auszahlung des Arbeitslosengeldes quittiert. Diese Art der Unterstützung existierte seit der Revolution 1918. Seit 1927 gab es einen Rechtsanspruch auf Arbeitslosenunterstützung. Diese zahlte dann die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenvermittlung, der Vorläufer der heutigen Bundesagentur für Arbeit, aus.
4 Dresdner Nachrichten vom 22. Dezember 1924


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.

Ein Kommentar

  1. In dem Eckhaus war bis vor einigen Jahren noch eine Gastwirtschaft drin, zuletzt ein Asia-Imbiß, wurde dann leider in eine Wohnung umgewandelt.

    PS: Bei der Unterschrift des dritten Bildes bitte die Jahreszahl korrigieren.

Ergänzungen gern, aber bitte recht freundlich.

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