Zielstrebig eilte Max Michael die Hauptstraße aus Richtung der Dreikönigskirche kommend hinunter und bog zu dieser dämmrigen Stunde des 7. Januar 1925 in die Nr. 11 ein. Im ersten Hinterhof öffnet er links die Tür zu seiner Stammkneipe, den Radeberger Bierhallen. Eine dicke Wolke aus Zigaretten- und Tabakdunst, aus Bier- und Schweißgeruch empfing ihn. Seine Kumpels waren schon da.
„Ahh, der edle Herr Stadtrat gibt sich die Ehre und lässt sich auch mal wieder bei seinem Wahlvolk blicken“, rief ihm feixend sein Genosse Josef Sembera zu.
„Momentan stehen doch keine Wahlen an, mein Lieber“, frotzelte sein Stammtischfreund Paul Müssigbroth, ein eingefleischter Kommunist, aber hier in der Kneipe ganz verträglich.
Es war ein Prinzip vom Inhaber der Bierhalle, Hermann Komert, seit den Unruhezeiten nach der Revolution, dass man über Politik zwar reden könne, aber handgreifliche Auseinandersetzungen ahndete er mit dauerhaftem Hausverbot. Bei ihm sei jeder Gast willkommen, ganz gleich welcher Partei oder sonstiger Ansichten. Er müsse nur seine Prämisse einhalten.
Und das zeigte sich auch am Mittwochsstammtisch. Neben den beiden Sozis und dem Kommunisten saßen auch der Maurer Oskar Zieger, der den Liberalen von der DDP anhing und der Fleischergehilfe Erich Schlegel, der aus seiner Präferenz für die Nationalsozialisten keinen Hehl machte.
Silvester in Elbflorenz
Das war das Thema, nachdem der Wirt dem Max sein Bier brachte. „Nach diesem weiteren Jahr voller Sorgen und Nöte war es kein Wunder, dass die Leute das Geld zusammenhielten und weniger ans Vergnügen und die Böllerei dachten“, erwiderte der arbeitslose Paul. „Ich bin mit Frau und Kindern kurz vor Mitternacht die Hauptstraße runter in Richtung Elbe. Kaum Betrieb. Es wurde nur wenig gefeuerwerkt.“1
„Ja, das stimmt“, rief Oskar Zieger. „Meine Nachbarn aus der Belle Etage2, die sich sonst im vornehmen Hotel ‚Vier Jahreszeiten‘3 tummelten, empfingen ihre Gäste zuhause. Musik gabs vom Grammophon.“
Erich Schlegel nickte zustimmend. „Das Geld sitzt nicht mehr so locker, seit deine Sozialisten, lieber Max, mit den Bürgerlichen sich dem Diktat von Versailles unterworfen haben. Das geht nicht gegen dich persönlich.“ Zustimmung erhielt er vom Kommunisten Paul.
Wirt Hermann Komert, der gerade am Tisch vorbei kam, blickte ernst in die Runde als Zeichen seines Unbills, denn er ahnte schon das Abgleiten in ein heftiges Streitgespräch. Noch war der Promillegehalt der Anwesenden nicht so hoch, dass nur noch die Fäuste reden wollten.
„Was gibt’s Neues aus dem Rathaus?“, lenkte Oskar das Gespräch in eine andere Richtung und blickte zu Max.
Rathausgeklatsche
„Was heißt Neues? Das Alte ist immer noch aktuell. Die Parteien zoffen sich wie die Berserker. Anbahnende Einigungen werden von anderen aus der eigenen Fraktion zunichte gemacht. Und selbst die Zuschauer auf der Tribüne diskutieren ungefragt mit“, brach es aus dem Stadtrat Max heraus. „Stellt euch vor, die Anhänger der Kommunisten scheuten nicht davor zurück, uns gewählte Abgeordnete mit unflätigen Ausdrücken, wie Arschlöcher und Doofköbbe, zu beleidigen und sogar echte Stinkbomben in den Plenarsaal zu werfen, während die kommunistischen Abgeordneten Beifall klatschten. Das ist eine völlige Entartung der kommunalen Verhandlungen.“4
„Aber richtig“, rief Paul erregt dazwischen. „Ich war selbst dabei. Als Arbeitsloser hatte ich Zeit, meine Genossen zu unterstützen. Anders als mit Stinkbomben konnten wir unseren Protest nicht zeigen. Auch wenn die Stadtkasse leer ist, gibt es den bürgerlichen Sesselfurzern nicht das Recht, den in der Hyperinflation unschuldig Verarmten auch noch die wenigen Zuwendungen wegzunehmen. Und ihr Stehkragenproletarier von der SPD unterstützt das noch. Schande über euch. Wie viel zahlt euch der Oberbürgermeister Blüher5, damit ihr stillhaltet und für ihn stimmt?“
Das war selbst dem Max zu viel. Er sprang von seinem Stuhl auf und wollte dem Paul an die Gurgel. „Wir sind nicht korrupt, aber auch keine Fundamentalopposition von der Gnade der Komintern in Moskau“, rief er über den Tisch. Das wiederum ließ der Kommunist Paul nicht auf sich sitzen. Sehr zum Amüsement des Nationalsozialisten Erich. „Da sieht man, dass diese Republik von Versailles Gnaden nicht fähig ist, die echten Sorgen des Volkes zu sehen und zu beheben.“
Wirt Hermann, der den bevorstehenden Krach ahnte, ging energisch dazwischen. „Letzte Mahnung, Leute. Wenn nicht sofort Ruhe und gesittetes Verhalten einkehren, dann wars das mit euch in meinem Restaurant.“
Das saß. Denn die Radeberger Bierhallen waren seit Jahren das zweite Zuhause der Stammtischler, weg vom Kindergeschrei, weg von den ewigen Nörgeleien der Ehefrauen, weg von der stumpfsinnigen Arbeitswelt, weg von den Sorgen um das Durchbringen der Familie am nächsten Tag, weg von der Arbeitslosigkeit und einer ungewissen Zukunftsaussicht.
Zukunftsvorstellungen
Diese Bergpredigt des Wirtes musste verdaut werden. Und da halfen am besten Insichgehen und eine Runde Bier mit einem kleinen Verdauerli. Erstes tat jeder für sich und zweites hatte der Wirt das schon längst in Arbeit.
„Du kannst uns wohl in die Seele schauen, lieber Hermann?“, rief Josef. „Oh ja“, lachte der Wirt. „Ich weiß, wie man hitzige Gemüter abkühlt“ und stellte die Getränke vor seine Streithähne.
„Apropos Zukunft. Oskar, du als Pseudointellektueller, wie siehst du das neue Jahr 1925?“
„Ich bin doch nicht Jesus“, lachte dieser. „Aber einen Spruch hätte ich. Einen von Wilhelm von Humboldt.“
„Ich kenne nur Wilhelm den Kaiser und der hat keine Zukunft mehr“, grummelte Josef.
„Stimmt“, meinte Oskar. „Den Kaiser will ich auch nicht mehr, obwohl… in seiner Zeit vor dem großen Krieg ging es uns am besten. Aber Humboldt, also der Wilhelm und nicht der Alexander, soll mal gesagt haben, ‚Man muss die Zukunft abwarten und die Gegenwart genießen oder ertragen‘.“6
„Hmm“, meinte Max und dachte nach. „Irgendwie hatte der Recht.“
Und Oskar setzte seine quasiintellektuellen Ergüsse fort. „Zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag gestern liegen bekanntlich die Raunächte. Und da zeichnet sich einiges ab.“
„Alles abergläubischer Quatsch“, rief Erich dazwischen. „Zukunft muss einen Plan haben, meinte schon mein Führer.“
Paul verdrehte die Augen. „Du mit deinem Hitler. Dessen Busenfreund Mussolini hat sich gerade in Italien zum Diktator7 gemacht. Lass doch mal den Oskar reden. Ich bin auch nicht abergläubisch und erwarte baldigst das proletarische Paradies auf Erden, wie es jetzt in der Sowjetunion aufgebaut wird.“
„Bla, bla, bla“, nörgelte Josef. „Guggen wir mal nur bis Dezember 1925. Also Oskar, was siehst du in deiner Geisteskugel?“
Neue Infanterieschule
„Ich denke, in der Politik wird es weiter schlecht gehen. Hier in Dresden wird die Infanterieschule der Reichswehr in der König-Georg-Allee8 Einzug halten. Das bedeutet für die Neustadt, dass nahezu tausend junge Kriegsleute die Bevölkerung verstärken. Das Stadtbild wird militärischer werden. Und die bringen Arbeitsplätze.“
„Pah“, rief Paul. „Militaristengequatsche. Militär bringt Krieg, will Krieg und braucht Krieg. Und verschafft dem Kapital gute Geschäfte. Und die Leute müssen darben.“
„Hör doch mal auf mit deinem Klassenkampfgetöse“, rief Oskar. „Dein Sowjetparadies ist auch nicht das, was deine Partei posaunt. Wie dort mit Andersdenkenden umgegangen wird, ist ein Verbrechen. Von uns am Tisch würde dann kaum noch einer hier sitzen. Aber nun eine weitere Zukunftssicht. Vielleicht habt ihr es nicht so bemerkt, aber der Zuzug von Ausländern hat zugenommen, trotz Inflation und Arbeitslosigkeit.“
Ausländer kommen
„Stimmt, ist mir auch aufgefallen. Vor zwei Jahren wimmelte es von Tschechen und jetzt sehe ich immer mehr Japaner und Chinesen“, bemerkte Erich nachdenklich. „Meistens kommen nur junge Männer. Was wollen die bei uns? Wegen unserer schönen Stadt sind die wohl nicht hier.“
„Stimmt“, meinte auch Max und zog genüsslich an seiner Zigarette. „Nimm nur mal die meisten Europäer, wie Russen, Rumänen, Italiener, Engländer und auch die Amerikaner. Die schlendern durch die Stadt, schauen hier, kaufen da und kehren in dieses oder jenes Restaurant ein. Und die Chinesen und Japaner? Mit ihren kurzen Beinen hasten sie durch die Menge. In Kaffeehäusern und Vergnügungstempeln sieht man sie selten. Sie büffeln und arbeiten und sammeln Kenntnisse. Was haben die vor?“
Stimmt“, warf Erich ein. „Man wird das Gefühl nicht los, dass diese kleinen Gestalten mit diesem unabänderlichen Lächeln nur unser Wissen und Können abzapfen wollen.“1
Neue gelbe Briefkästen mit Fragezeichen
Nun waren die gelben Briefsäulen im Freistaat eingezogen. Vorbild seien die englischen Postsäulen, die es dort seit 50 Jahren gab. Das „Gelb“ war der historischen Farbe der alten sächsischen Post entlehnt.
„Sie beleben doch unser Stadtbild“, meinte Josef. „Neben den teekannenroten, gelben und blauen Straßenbahnwagen, den lila-roten und gelb-rot-grünen Lichtreklamen, den neuen Verkehrsampeln und anderen Verschandlungen unseres Stadtbildes, erhöhen die Postsäulen doch nur die Buntheit der Stadt.“
Paul sinniert nachdenklich und meint dann: „Ich habe irgendwo gelesen, dass diese Postsäulen fünfmal am Tag leert werden sollen. Das will was heißen bei den nur dreimal täglich erfolgenden Briefzustellungen, die aber schon wieder wegen fehlender Leute rückgängig gemacht wurden.“
„Eins finde ich aber merkwürdig“, erwiderte Erich.“ An den Hauswänden ein paar Schritte hinter den gelben Postsäulen hängen noch die alten blauen preußischen Briefkästen an den Häuserwänden. Auf diesen steht, dass sie achtmal am Tag geleert werden. Da stellt sich mir die Frage, radelt hier der Postabholer fünfmal zur gelben Säule und ein anderer achtmal zum blauen Kasten? Wo ist da die Personalersparnis?“
Bunte Fahrradboten
Max lachte. „Das ist eine Möglichkeit, um die Fahrradboten auszulasten“, meinte er ironisch, „denn die roten, grünen und braunen Radler und Eilboten1 sind wieder da und flitzen mit und ohne Pakete durch die Straßen. Wer nicht rechtzeitig zur Seite springt, kann dann unbestellt auf dem Lenker mitfahren oder wird in die Büsche geworfen. Damit hat sich auch der Beruf des Laufburschen bei den Geschäftsleuten erübrigt. Die rufen nun per Telefon ganz modern ihren Fahrradboten. Und der ist allemal schneller als die bummelnden Laufburschen. Für die kann es spezielle Aufgaben geben, wie das Überbringen spezieller Botschaften, das Abholen von Kindern und Bringen zur Oma, die Führung von Ausländern und Einheimische durch die Sehenswürdigkeiten unserer Stadt usw.“
Es sah doch nicht so düster aus
Oskar klatschte in die Hände. „Bravo Max, die Zukunft sieht doch nicht so düster aus. Dresden wird wieder. Und viele lassen sich was einfallen. Diese Woche sah ich einen feudal gelbschimmernden, bunt glitzernden Straßenbahnwagen auf einem brachliegenden Gleis am ehemaligen Güntzplatz9 hinter der Kreuzkirche vor der Reformierten Kirche. Dort heraus kam ein Brautpaar mit großem Gefolge und stieg in die Bahn. Eine schöne Art, Hochzeit zu feiern und ein neues Geschäftsfeld der Städtischen Straßenbahn. Die Zukunft beginnt gerade. Prost“, rief Oskar und zog noch einmal an seiner Zigarre.
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Nachrichten vom 1. Januar 1925
2 in den bürgerlichen Wohngegenden der erste Stock
3 stand am Neustädter Markt; 1945 zerstört
4 Dresdner Neueste Nachrichten vom 1. Januar 1925
5 Oberbürgermeister Bernhard Blüher gehörte der protestantisch geprägten Deutschen Volkspartei an und war langjähriger Amtsträger von 1915 (im Kaiserreich), über die Zeit der Revolution 1918 und den Unruhejahren bis 1923 sowie während der Weimarer Republik bis 1931.
6 Wilhelm von Humboldt „Lichtstrahlen aus seinen Briefen an eine Freundin“, Ausgabe 5 von 1865, Seite 148
7 Dresdner Neueste Nachrichten vom 6. Januar 1925
8 heute Stauffenbergallee
9 befand sich zwischen der Kreuzkirche und dem Külz-Ring, heute überbaut; die Reformierte Kirche wurde 1945 zerstört; dort befindet sich das Gebäude der Sparkasse
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.