Was das „Neue Deutschland“ für die DDR war, ist dieser Laden für die Neustadt: Zentralorgan. Aber freilich mit augenzwinkerndem „H“ verziert – eine Satire auf Mauerzeiten und offensichtlich langlebiger als plumpere Wortspielereien wie „Stasi Goreng.“
Das Zentralohrgan ist so etwas wie der akustische Wanderzirkus im Viertel. Nach der Wende entschlossen sich vier musikbegeisterte Jugendliche, unter ihnen auch Norman Sharp, der heutige Besitzer, einen Schallplattenladen zu eröffnen. Eine Bruchbude auf der Görlitzer Straße gegenüber der Schule (heute Reisekneipe) wurde angemietet. Hinterhaus, 4000 Mark Startkapital, 26 Mark Miete, gebrauchte Schallplatten – Existenzgründung leicht gemacht! Das Geschäft lief gut an, waren die Ost-Bürger doch ziemlich ausgehungert, was den medialen Sektor betraf. Endlich keine zusammengeschusterten Best Of’s mit falschem Cover oder selbstgebastelte Mixtapes mehr, sondern originale Musik von Pixies über Pink Floyd bis Stones. Ganz legal, gleich um die Ecke. So blieben Plattenjunkies zukünftig abenteuerliche Beschaffungsreisen nach Ungarn erspart. Die Nachfrage war so groß, dass Second-hand-Scheiben bald nicht mehr reichten und das Sortiment mit Ware der ersten Wahl aufgestockt werden musste.
Ein Jahr nach der Eröffnung war die angegammelte Wohnung eine der ersten, die der Sanierung anheim fiel. Die Suche nach einem neuen Gewerberaum begann. Begehrte Plätze waren zwar existent, jedoch von HO oder Konsum besetzt. Die entschlafene Planwirtschaft warf aus der Grube Gewerbegründern immer noch Knüppel zwischen die Beine, aber schließlich fand sich ein Örtchen auf der Martin-Luther-Straße. Wieder Hinterhaus. Diesmal erhöhter Schwierigkeitsgrad durch die Lage im zweiten Stock und eine exorbitante Miete. Die Stammkundenkarawane ließ sich nach anfänglicher Irritation mit Plakaten in den abgelegenen Hinterhof locken und zog auch mit, als das Zentralohrgan auf die Böhmische Straße wanderte.
Mittlerweile schrieb man das Jahr 1995 und „Willi kam aus dem Westen“, wie Norman es beschreibt. Mit Willi vergrößerte sich das Zentralohrgan zur GbR und zog gemeinsam mit dem 2nd-hand-Store „Chicsaal“ auf die Alaunstraße 29 in ein tunnelartiges Ladengeschäft. „Vorne konnten die Jungs nach Schallplatten gucken und die Mädchen konnten gleich nach hinten zu den Klamotten durchgehen“ grinst Sharp. Zehn Jahre florierte dort der Handel mit Stoff aus zweiter Hand und in Rillen gebannten Melodien. Kurz vor dem Millenium gewann die Neustadt noch einen Scheibenanbieter dazu, denn Willi spaltete sich ab gründete das „Drop out“. Im Jahr 2005 drohte ein neuer Mietvertrag und Sharp brach die Zelte ab, steckte die Nase in den Wind und folgte ihm gen Louisenstraße. Hier ist das Original auch heute noch zu finden und lockt neben Musike mit Büchern, einer Poster-Show von Milkman und gelegentlichen Gigs.
Im Laufe der Zeit verkleinerte sich der Besitzerkreis des Zentralohrgans. Einer nach dem andern stürzte sich ins Studium oder ergriff einen „anständigen“ Beruf, bis Norman Sharp übrig blieb. Wie der Laden dem Vinyl treu bleibt, bleibt er dem Laden treu und beobachtet hinter seinem Tresen mit einem Hauch Schadenfreude den Todeskampf der CD.
Das Frühjahr geizt im übrigen nicht mit Blüten. „Nick Cave, der alte Sack, hat es wieder gerissen. Es gibt eine neue Eels-Platte, Atoms for Peace und Tocotronic sind am Start. Adam Green ist aus der Drogenversenkung wieder aufgetaucht und hat mit Binki Shapiro eine nach Nancy Sinatra und Lee Hazlewood klingende Platte rausgebracht …“ zählt Sharp auf. Das klingt doch nach lauer Luft und herbem Duft. Das Zentralohrgan wird hoffentlich noch zahlreiche solcher Lenze erleben, bis zur Gehörlosigkeit und noch viel weiter! Sharp: Beethoven war auch taub und hat weitergemacht.
Informationen und Öffnungszeiten
- Zentralohrgan, Louisenstraße 22
- Montag bis Freitag 11 bis 20 Uhr, Sonnabend 10 bis 16 Uhr
- Im Internet zu erreichen unter www.zentralohrgan.de
War das Zentralohrgan nicht auch kurzzeitig auf der Böhmischen Straße (gegenüber Nummer 20/Durchgang zum Nordbad) beheimatet oder verwechsle ich da was?
steht doch da…
ich find supi…mein spieler braucht immer neues futter!
weiter s sharpi
Das kann sehr gut möglich sein. Sharp meinte, er hätte fast alle Straßen der Neustadt durch. Ich habe etwas verkürzt und überschlagen :)
weiterhin immer dicht am Vinyl bleiben. Wäre es nicht möglich, das gegen Geld die Platten in der Auslage monatlich in mein Postfach wandern oder im Netzt Probe gehört werden können? Die Auswahl ist für mich so etwas wie die Web1.0 Variante zu Amazons Vorschlagwesen „Wenn du das hörst, wäre es pervers, wenn du nicht auch diese Platte gehört hast.“
oder anders, kurz und knapp wie bei High Fidelity -> „Wie kann man bloß diese Platte nicht besitzen? Das ist krank!“ http://www.filmzitate.info/index-link.php?link=http://www.filmzitate.info/suche/film-zitate.php?film_id=581
Ich finde ja schon die Variante gut, dass man zu manchen Platten die Songs als Download dazu bekommt.