„Leo, falte die Servietten und platziere sie auf diesen Tisch. Die Damen werden bald eintreffen“, rief Kellner Ewald, genannt Waldi, dem Lehrling Leopold zu. Dieser grinste und stellte sich geistig vor, wie dieses Quartett im Gänsemarsch das Narrenhäusel durchschritt und sich an besagtem Tisch niederließ.
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Und da ging auch schon die Tür auf und der zum ungezählten Male zelebrierte Auftritt des Damenkränzchens nahm seinen Lauf. Vornweg die Diva, Adele Lampel, ihres Zeichen Schauspielerin am Alberttheater, wie es der Volksmund immer noch ausdrückte oder wie es offiziell hieß: Neustädter Schauspielhaus. Adele überstrahlte alle und alles. Lehrling Leopold starrte auf ihren Busen, der völlig frei von einem BH auf und nieder wogte.
Die ihr folgenden drei Freundinnen konnten sich mit ihrer etwas biederen Garderobe hinter ihr verstecken. An diesem 28. Februar 1925 läutete Adele nach dem Ende der Faschingszeit für sich den Frühling ein. Zwar spielte das Wetter mit seinen 5°-Celsius-Außentemperaturen und dem bewölkten Himmel nicht mit, aber daran störte sich die Diva nicht.
Der Aufmarsch
„Mach den Mund zu, mein kleiner Leo“, lächelte Adele den Kellnerlehrling an, um dessen Blick von ihrem Busen auf ihr Gesicht zu lenken und tätschelte ihm die Wange.
Dabei amüsierte sie sich über die aufsteigende Röte des 18jährigen und reichte ihm ihren Pelzmantel. Sie mochte Leo, wie sie auch einen Faible für junge Burschen im Allgemeinen hatte. Hier konnte sie ihre Herrschaftsgelüste voll ausleben, wie sie auch die etwas härtere männliche Gangart einiger Herren in den 40ern nicht verachtete.
Da Adele im Narrenhäusel bekannt war, wie ein bunter Hund, störten sich die meisten Damen im Lokal nicht an ihrem Äußeren. Die diese begleitenden Männer schon gar nicht. Es gab zunehmend Gäste, die an den Kränzchentagen des Quartetts extra Tische reservierten.
Schneidermeisterin Frieda Lempke umrundete ihre Freundin Adele und begutachtete sie von oben bis unten mit fachlichem Blick. An ihr konnte sie sehen, was demnächst ihre Kundschaft wünschte.1
Der neuste Pariser Chick
Der bisherige Hänger war out. Die Taille rutschte nach unten und das Kleid endete nicht an der Wade, sondern kurz unter dem Knie. Was diese Länge betraf, war Frieda bei den deutschen Damen etwas skeptisch. Ein Hellviolettblau zierte ein Blumenmuster, den Parma-Veilchen nachempfunden. Kombiniert wurde das Ganze mit einem intensiven Parfüm aus eben dieser Pflanze, die den gesamten Gastraum im Narrenhäusel durchfloss. Den Kopf krönte eine dunkelblond gefärbte Bubifrisur. Darüber ein Stirnband mit einer Pfauenfeder.
Martha druckste schon eine Weile herum und ließ endlich ihrer Meinung freien Lauf. „Weißt du, Adele, ich würde mir nie einen Bubikopf machen lassen. Das wäre furchtbar für mich. Es nähme mir meinen einzigen fraulichen natürlichen Schmuck. Und zum Tanzen würde mich kein Mann mehr auffordern.“
Streit um den Bubikopf
„Stimmt“, erwiderte Adele sarkastisch. „Wäre ich ein Mann, würde ich dich mit deinen langen Strohhaaren auch nicht zum Tanz auffordern.“
Das trieb Martha einige Tränen aus den Augen, was wiederum Erna und Frieda empörte, die was von ‚Gemeinheit‘ riefen, was Adele veranlasste, eine Entschuldigung zu murmeln.
„Ja, ja, in Ordnung, ihr habt recht. Ich mag nun mal Bubikopf. Er ist modern. Dass ein Bubikopf aus meiner Sicht ästhetischer ist, als diese ungepflegten langen Mähnen, kann nur bestreiten, wer völlig geistig verbohrt ist.“
„Adele!“, rief Erna laut und klatschte mit der flachen Hand so extrem auf den Tisch, dass die Sektgläser klirrten und drohten, umzufallen.
Das Kränzchen hatte nun die Aufmerksamkeit des gesamten Restaurants. Deshalb waren die meisten schließlich hergekommen. Das gab Futter für den Tratsch im eigenen Freundeskreis. Den Wirt freute es.
„Schon gut, schon gut, meine Lieben. Mein Temperament geht halt wieder mal mit mir durch. Entschuldigt. Von mir aus kann sich jeder die Haare so wachsen lassen, dass sie irgendwann mal keine Kleider brauchen. Da wäre man übrigens ganz schnell bei seiner Notdurft. Kein Kleid raffen und keine Schlüpper runter ziehen, einfach Haare beiseite und laufen oder purzeln lassen.“ Im ganzen Lokal brach ein Lachsturm los.
Oberkellner Franz Xaver Neumann begab sich an den Tisch der Damen, stocksteif wie immer (manche behaupteten, dass er sogar sein Spiegelbild siezte) und nahm ohne emotionaler Regung auf das soeben Gesagte die weitere Bestellung auf. Die obligatorische Sektrunde hatten sie bereits hinter sich. Nun folgten Eierschecke und Kaffee, denen sich ein leichter Weißwein vom Rhein anschloss.
Erster Dresdner Opernball
Erna, Martha und Frieda interessierten nun sich für den ersten Dresdner Opernball2, der eine Woche zuvor stattfand und bei dem Adele natürlich nicht fehlen durfte.
„Der Witz war“, erzählte sie, „dass der Ball eigentlich eine ‚Opernredoute‘ sein sollte.“
„Und was ist das wieder für ein Quatsch? Hoffentlich nichts perverses?“, fragte die Beamtengattin Martha Kruska misstrauisch und schürzte ihre Lippen. Adele lachte laut auf.
„Meine liebe Martha, von pervers kann keine Rede sein. Zumindest heute nicht mehr. Die Redoute geht auf das 18. Jahrhundert zurück, als sich die Damen und Herren des Adels maskierten, um beim Hofball ihren frivolen Anzüglichkeiten scheinbar anonym zu frönen.“
„Also ein ganz normaler Faschingsball?“, rief Erna dazwischen.
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Der Unterschied
„Nein. Der Ball in der Semperoper letzte Woche war zwar als Redoute angekündigt, aber in Wahrheit war es ein Opernball“, fuhr Adele fort, „hier erschienen nur die Damen mit Halbmaske und die Herren ganz ohne, ohne Maske natürlich“, dabei hob sie ihre linke Augenbraue.
„Vielleicht eine Anlehnung an das gleichzeitige Faschingswochenende, wenn man so will. Ich fand das eine sehr feine Sache. Man schuf durch die Vereinigung von Zuschauerraum, Orchestergraben und Bühne einen großen Festsaal. Eine Freitreppe führte zur Mittelloge im ersten Rang. Sie diente als Ein- und Ausgang. Herrlich die tollen Nebenräume, Wandelgänge, Restaurationen und Bars. Und diese Kleider, diese geschminkten Gesichter, diese Schuhe. Es war eine Pracht. In diesem noch jungen 1925er Jahr zeigte man endlich wieder, wer man war und was man hatte. Und was mir auffiel, dass auf dem Theaterplatz hunderte Schaulustige waren und in fröhlicher Stimmung den Einzug der Dresdner Hautevolee3, bestückt mit Bier- und Weinflaschen und auch härteren Sachen, bestaunten.“
„Früher bei Hofe war auch der König dabei. Und heute?“, fragte Martha.
Sehen und gesehen werden
„Heute wars ganz bürgerlich. Da gaben sich der Ministerpräsident, der Oberbürgermeister und der Generalintendant ein Stelldichein. Am tollsten war die Musik und vom Tanzen konnte ich nicht genug kriegen. Punkt 11 gaben Fanfaren dann das Zeichen zur Demaskierung der Damen. Das ging irgendwie unter, denn den meisten Damen war dieses falsche Rühr-mich-nicht-an-Versteckspiel zu blöd und sie demaskierten sich schon in der ersten Stunde. Herausragend waren übrigens die Darbietungen meiner Gesangskolleginnen und -kollegen aus der Semperoper. Eins fand ich wohltuend und sogar vorbildlich, nämlich die sehr moderaten Preise für Imbiss und Getränke. Da war für jeden Geldbeutel was dabei, von Bockwurst mit Kartoffelsalat und Bier bis zu einer gebratenen Taube und edlem Champagner.“
„Und an die Armen dachte wieder mal keiner“, monierte sich Martha.
„Oh doch“, antwortete Adele. „In diesen ernsten Zeiten tat man natürlich was für die Wohltätigkeit. Eine Tombola sammelte reichlich Geld für den Pensionsfond der Dresdner Künstler, die im Alter oftmals kein Engagement mehr bekommen. Das betrifft hauptsächlich uns Frauen. Ich kenne einige, die ihren Lebensabend verarmt dahin fristen müssen. So und nun habe ich Durst, meine Lieben. Waldi bring bitte eine Runde von diesem Sekt, den wir eingangs getrunken haben.“
Radiomanie
Dann wechselte Erna Schwuppke, die Gattin eines Hoteliers auf der Bautzener Straße, das Thema.
„Was haltet ihr von dieser über uns hereingebrochenen Radiomanie4, diese Sucht, viele Stunden neben einem Kasten zu sitzen und mittels Kopfhörer dem zu lauschen, was dieser von sich gibt. Nachdem der Sender Dresden existiert, schaffte mein Mann so einen Apparat fürs Hotel an, wegen der Wünsche der Gäste und weil die Zeit es verlangte. Und für uns kaufte er gleich einen mit. Er selbst ist in unseren privaten Apparat ganz vernarrt. In jeder freien Minute stülpt er sich diese Kopfhörer über. Darüber vergaß er sogar die ehelichen Pflichten.“
Adele und Frieda lachten auf und Martha verdrehte pikiert die Augen.
„Übrigens, meine Freundinnen, ein interessanter Fakt fällt mir dazu ein“, platzte Adele in den Wortschwall von Erna. „Ich vermute stark, dass dieses Radio mit Kopfhörer erst entstanden ist, als der Bubikopf als Frisur das Licht der Welt erblickte. Durch diesen Bubi hatte der Ton nur eine geringe Schallschutzschicht zwischen Kopfhörer und Ohr und war besser zu verstehen.5 Was meint ihr?“
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Aber das Kränzchen wollte nicht noch einmal in die Frisurendiskussion eintreten.
„Ich habe gehört, dass dieses Radiohören schon zu Scheidungen6 geführt haben soll“, wandte Martha Kruska ein, die fürchtete, dass Adele sonst wieder ausfällig werden würde. Erna und Frieda stimmten sofort zu.
Scheidung via Radio
„In Amerika gibt es das Radio schon länger und dort soll eine Frau die Scheidung beantragt haben, weil ihr Ehemann seit zwei Jahren an Radiomanie leide. Ganze Nächte saß er am Gerät und zwang sogar seine Frau zum Mithören. Er gab ihr kein Geld mehr für Kleider und Friseur sowie fürs Essen für die Kinder, vernachlässigte die Arbeiten auf der Farm. Überdies benutzte er unflätige und perverse Ausdrücke in ihrer Gegenwart, die er wohl nur aus diesem unzüchtigen Kasten gehört haben könne. Konnte er mal den Sender nicht richtig einstellen und es fiepte und rauschte, bekam er Tobsuchtsanfälle. Furchtbar.“
„Furchtbar“, erwiderte auch Schneidermeisterin Frieda Lempke, Martha nachahmend. „Da muss man aufpassen, dass der Gatte nicht eines Tages in der Klapse landet. Und das alles nur wegen dieses Radios.“
Adele schmunzelte verschmitzt. „So furchtbar wäre das nun auch wieder nicht. Manchmal lösen sich damit auch Eheprobleme. Aber mal Scherz beiseite. Es ist mit dem Radio wie mit allen Dingen im Leben. Man muss aus meiner Sicht drei Dinge tun: Erstens maßhalten, zweitens maßhalten und drittens maßhalten. Und das beste Mittel gegen Radiomanie ist und bleibt natürlich unser Kränzchen.“
Dem stimmten alle lachend zu. Kellner Waldi brachte eine neue Runde.
Anmerkungen des Autors
1 Mehr zur Mode im Jahr 1925: www.was-war-wann.de
2 Dresdner Nachrichten vom 23. Februar 1925
3 oft spöttisch abwertend verwendet: die vornehme, vermeintlich bessere, feinere Gesellschaft
4 siehe Neustadt-Geflüster-Serie zum Sender Dresden
5 Dresdner Nachrichten 28. Februar 1925
6 Dresdner Neueste Nachrichten vom 11. Dezember 1923
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.