„Adele, hörst du mir überhaupt zu? Was ist nur los mit dir?“ Hotelgattin Erna Schwuppke blickte vorwurfsvoll zu der hier in der Neustadt bekannten Diva des Alberttheaters, Adele Lampel. Die sonst so quirlige Schauspielerin war nicht wiederzuerkennen.
Kein divenhafter Auftritt in ihrem Stammcafé „Narrenhäusel“, kein Schaulaufen mit ihrer neuesten Garderobe, kein Tätscheln der Wange des Kellnerlehrlings Leo, kein Hoch auf Gott und die Welt oder auf die Runde der vier Freundinnen. Auch die Beamtengattin Martha Kruska wurde nach der Begrüßung immer introvertierter und die sonst lebensfrohe Schneidermeisterin Frieda Lempke hüllte sich in Schweigen.
Missstimmung
Diese merkwürdige Stimmung beeinflusste auch die anderen Gäste, sodass man sprichwörtlich die Kakerlaken durch die Küchenräume stampfen hören könnte. Das war selbst dem sonst sehr auf Etikette achtenden und sich steif gebenden Oberkellner Franz Xaver Neumann, genannt Herr Franz, zu viel. Langsam wurde die Situation geschäftsschädigend und Herr Franz griff ein.
In erhabener Haltung schritt er unter den Augen aller im Lokal der verzweifelten Erna Schwuppke zu Hilfe. „Gnädige Frau Adele. Es geht mir zu Herzen, Sie in Ihrem großen Kummer leiden zu sehen. Bitte sagen Sie mir, was wir Ihnen Gutes tun können.“
Der Oberkellner schien mit den richtigen Worten zu ihr vorgedrungen zu sein. „Ach, mein guter Herr Franz“, seufzte Adele. „Ich bin noch ganz entsetzt, was mir beim Künstlerfest im Linckeschem Bad1 am Freitag letzte Woche widerfahren ist.“ Dann ging sie wieder in sich.
„Adele ist so, wie das heutige Aprilwetter an diesem 25. April 1925. Nass, kalt, ungemütlich“, rief Frieda sarkastisch aus und übernahm damit die Rolle, die Adele sonst immer spielte. „Hast wohl keinen der dort sich scharenweise rumtreibenden jungen Männer abgekriegt und musstest dich mit dem krumm gebeugten Hausmeister begnügen? Wirst wohl alt?“
Den anderen blieben vor Schreck ob dieses ungewohnt frechen Tons der Lempke die Münder weit offen und bei einigen der Anwesenden machten sich deren Prothesen bereit, selbige zu verlassen. Martha wollte mit ihrer sozialen Ader der Diva beistehen und setzte zu einer Erwiderung an. Doch Adele war schneller und hatte sich gefangen.
Adeles Problem
„Frieda, du kleines Biest. Mir kannst du nicht das Wasser reichen. Nein, ich bin noch nicht zu alt. Und ja, mir rennen die Schnuggelchen immer noch nach. Aber danke, dass du mich aus meinem Tief geholt hast. Mir passierte viel Schlimmeres, meine lieben Freundinnen.“ Dann holte sie ein Schnupftuch aus ihrer Handtasche, schnaubte sich die Nase und war auf einmal die alte. Sehr zur Freude von Herrn Franz und den anderen Gästen im Café.
Sofort hob sich der Geräuschpegel wie ein den Korb verlassender Bienenschwarm, der zu einem Blütenbaum ausflog, und Herr Franz gab dem Kellner Ewald einen Wink. Der brachte eiligst eine Runde Champagner. „Auf Empfehlung des Hauses“, näselte Herr Franz und machte dabei einen vollendeten Diener.
Nun wollten die Damen am Tisch endlich wissen, was im Linckeschem Bad vorgefallen sei. „Ach, meine Lieben. Ich hatte dort einen Auftritt und sollte zwei Lieder, die der Musikdirektor Kaufmann extra für mich komponierte, als Premiere vortragen.“ Adele nahm einen Schluck aus dem Champagnerglas.
„Nun spann uns nicht auf die Folter, Adele. Wir wollen endlich wissen, was dort los war“, rief Frieda energisch.
Der Unglücksbote
„Dann suchte mich ein schwarzer Engel auf. Dann versagte mir die Stimme. Ich krächzte nur noch wie eine Nebelkrähe. Keine Lutschbonbons und keine Umschläge halfen, auch kein Rosenkranz und kein Vaterunser. Und dabei war ich im Programm angekündigt.“ Adele schnäuzte zum wiederholten Male und strapazierte die Nerven ihrer Freundinnen aufs Höchste. „Und so musste ich mehr übel als wohl meiner schärfsten Konkurrentin, dieser Möchtegern-Pseudo-Mezzosopranistin Charlotte Klotz das Feld überlassen. Naja, sie war nicht übel. Aber an mich reichte die sowieso nicht ran, auch wenn sie im Alberttheater noch so sehr mit dem Direktor und dem Regisseur anbändelte und wie eine Hure um Rollen buhlte.“
Zuwendung und Trost kamen von Seiten der Freundinnen und vom Kellner Waldi. Der brachte die nächste Runde Champagner, diesmal auf Kosten Adeles.
Was bei der Wohnungsvermietung zu beachten ist
Dann wollte Martha sprechen, was die anderen nicht wahrnahmen. Erst Adeles energisches Eintreten für sie ließ sie zu Wort kommen. „Meine Lieben, mein Mann, der Assessor im Rathaus gegenüber, möchte unsere zweite Wohnung auf der Königstraße, nachdem der stille Steuerbeamte Max von Dresden fortgezogen ist, neu vermieten. Mir ist aber nicht ganz wohl dabei. Schließlich wollen wir uns keine Läuse in unseren Pelz setzen.“
„Ich wüsste da ein Rezept2“, rief Frieda Lempke, von der man wusste, dass sie dem Esoterischen nicht abgeneigt sei. „Liebe Martha, nimm einfach einen nassen Scheuerhader und wische mit ihm ein Kreuz in die Stube. Dann gehe auf ihm einen Bannspruch gegen das Böse sprechend rückwärts aus der Stube hinaus und hole Brot und Salz. Letzteres streue in die Ecken und lege das Brot in die Mitte des nassen Kreuzes. Dann gehe wieder rückwärts aus dem Zimmer. So wird sicher ein guter und angenehmer Mieter kommen.“
Adele lachte laut auf. „Sowas habe ich noch nie gehört.“
Der Neumieter
„Lache nicht. Damit macht man keine Späße. Ich weiß sehr wohl, dass Du, wie alle Schauspieler, einen Hang zum Okkulten hast. Willst es nur nicht zugeben“, zischte Frieda und funkelte Adele wütend an. „Falls du mal in eine andere Stadt zu einem neuen Engagement gerufen würdest, vielleicht an das Burgtheater in Wien, nach Salzburg oder Mailand, dann solltest du Folgendes bei deinem Wohnungsbezug beachten. Bevor du in die neue Wohnung mit deinem Krempel einziehst, muss Brot und Salz schon dort sein. Dieses musst du aus deiner alten Wohnung vor dem Einzug in die neue dorthin gebracht haben. Und achte auch stets darauf, keinen Efeu in die Stube zu stellen. Er würde dir viele Unannehmlichkeiten, wie neidische und bösartige Kolleginnen, aufdringliche Regisseure und lüsterne Kapellmeister oder sogar den Bühnentod bringen.“
„Um Gottes willen“, rief Martha entsetzt und bekreuzigte sich. Dann wedelte sie mit einer Serviette, um das Böse von ihrem Stammtisch zu vertreiben, und sprach ein Ave Maria.
Reichspräsidentenwahl 1925
„Habt ihr eigentlich schon Klarheit darüber, wen ihr morgen bei der Stichwahl für den Reichspräsidenten3 die Stimme gebt?“, fragte Erna. „Mein Herr des Hauses wählt Hindenburg. Das empfahl auch der Frauenverein unserer Kirchgemeinde.“4
Frieda schüttelte den Kopf. „Diesen Monarchisten und Rechtsnationalen Hindenburg kann man nicht wählen. Wir sind anständige Leute und wählen den Kandidaten vom Volksblock, dem ehemaligen Reichskanzler Marx von der Zentrumspartei. Den unterstützen auch die Sozialdemokraten und die Liberalen von der DDP.“
Als der Kellner Ewald, genannt Waldi, am Tisch vorbeikam, bemerkte er nur, dass er den Kommunisten Thälmann wähle, weil der für das Wohl der Arbeiter etwas täte. Das rief Entsetzen am Tisch hervor und Waldi bekam vom Oberkellner Herrn Franz einen Rüffel, weil das Personal während der Arbeit politische Äußerungen gegenüber den Gästen zu unterlassen habe.
Adele und Erna verzogen pikiert ihre Münder und meinten, nicht zur Wahl gehen zu wollen. Und so endete dieser Kränzchennachmittag, wie er begann – mit einer Missstimmung.
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Nachrichten vom 20. April 1925
2 Dresdner Nachrichten vom 1. März 1925
3 Diese Stichwahl fand am Sonntag, den 26. April 1925 im ganzen Deutschen Reich statt.
4 Mehr dazu in der Wikipedia
Zur Auswahl standen:
- Paul von Hindenburg; Generalmarschall aus Hannover und Kandidat des antirepublikanischen Reichsblock aus der protestantischen DVP, der Wirtschaftspartei, der rechten DNVP, der katholischen Bayrischen Volkspartei und mehrerer konservativer Kleinparteien
- Wilhelm Marx, Reichskanzler a.D. aus Berlin und Kandidat des Volksblock, bestehend aus SPD, der liberalen DDP und der katholisch-konservativen Zentrumspartei
- Ernst Thälmann aus Hamburg, Reichstagsabgeordneter, Vorsitzender der KPD
- Ergebnisse der Stichwahl:
Hindenburg: 48,3 Prozent der Stimmen
Marx: 45,3 Prozent
Thälmann: 6,4 Prozent
Lt. Verfassung reichte im zweiten Wahlgang eine relative Mehrheit. Damit wurde Paul von Hindenburg das bis heute das einzige, direkt vom Volk gewählte deutsche Staatsoberhaupt. In seinem späteren Amtsverlauf verstärkte sich sein autoritärer Amtsstil und er ebnete Adolf Hitler den Weg zur Macht. Er blieb Reichspräsident bis zu seinem Tode am 2. August 1934.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.
Müsste man nicht irgendwie mit Quellenangaben arbeiten oder so? Ich mein, das Foto vom Narrenhäusel ist mit „Postkarte“ unterschrieben, sieht aber nicht wie eine damalige Postkarte aus und das Wasserzeichen von „Das alte Dresden“ ist deutlichst zu erkennen. Unwahrscheinlich daß ihr das Bild selbst gemacht habt, oder?
Hallo Andrea, vielen Dank für den Hinweis. Das Wasserzeichen war mir gar nicht aufgefallen. Bei so alten Fotos ist es schwierig, die genaue Quelle zu nennen. Ich war der Ansicht, dass es eine zeitgenössische Postkarte war. Verwende jetzt ein anderes Bild. Quellenangabe ist da aber auch schwierig.