Wie Gerlinde Berger mir an einem kleinen, mit Nähmaschine bestücktem Tischchen gegenüber sitzt, die Hände im Schoß gefaltet und fröhlich lächelnd, erinnert sie mich an die Dame Aiuóla aus dem „Änderhaus“. In der unendlichen Geschichte erreicht der kleine Junge Bastian Balthasar Bux die rotbackige, in sich ruhende Frau nach aufregenden Reisen auf der Suche nach seinem wahren Wunsch. Als Änderhaus könnte man das Nähzentrum Pfaff wohl auch bezeichnen, denn hier werden nicht nur Nähmaschinen verkauft. Aus Garnen, Stoffen, Knöpfen und Deko-Klingeling entstehen fatansievolle Eigenkreationen vom Plüschpilz bis zum Ballkleid. Bergers Nähkästchen ist Anlaufpunkt für alle Anhänger der Handmade-Welle. Dabei geht um mehr als um hausfräuliches Freizeit-Basteln. Handarbeit avanciert zusehends zu einem populären Gegenentwurf zur konsumtionistischen Shopping-Gesellschaft – obwohl Gerlinde Berger bescheidenere Intentionen hat. „Für mich ist Handarbeit ein Weg, vom alltäglichen Stress runterzukommen.“
Die Tochter einer Damenschneiderin pfaff – Entschuldigung – pfiff allerdings in ihrer Jugend auf Häkelnadel und Strickliesel. Erst allmählich tastete sie sich wieder an die Freuden der Masche heran. Bis zur selbstständigen Leiterin der Pfaff-Filiale dauerte es allerdings noch. Gerlinde Berger beendete ihre Ausbildung als Buchbinderin und bewarb sich aufgrund der schwierigen Berufslage nach der Wende in einer Bäckerei als Verkäuferin. Das klappte nicht – glücklicherweise. Denn so schickte Frau Berger 1994 eine Bewerbung an die Dresdner Filiale des deutschen Unternehmens „Pfaff Industriesysteme und Maschinen AG zur mechanischen Herstellung von Nähten“ aus Rheinland-Pfalz, damals ansässig auf dem noblen Weißen Hirsch.
„Ich bin sehr kontaktfreudig“, begründet Frau Berger das physische soziale Netzwerk um sie herum. Mit dieser Eigenschaft überzeugte sie, obwohl fachlich nicht qualifiziert, auch die Pfaff’sche Geschäftsleitung und stieg von der Verkäuferin bis zur Filialleiterin auf. Ein Jahr später zog das Geschäft auf die Bautzner Straße 5, zehn Jahre später übernahm Gerlinde Berger als „autorisierte Händlerin“. Regelmäßig finden hier Nähkurse für Anfänger, Fortgeschrittene und Jugendliche statt. Gemeinsam mit einer Mitarbeierin und einer Azubine schmeißt Frau Berger den Laden. Mit an Bord und zuständig für Kurse sind zudem eine Gewandmacherin und eine Patchwork-Spezialistin.
Bereits im August beginnen hier die Vorbereitungen für selbst genähte Geschenke und Dekoration, denn Selbstgemachtes braucht vor allem eines: Zeit. Gerlinde Bergers Interessenfeld sprengt dabei die Nähte des Stofflichen. Auch Keramik-Schmuck-Kurse und Kränzebinden nehmen sie ein und sie teilt ihr Hobby leidenschaftlich gern mit Interessierten.
Nadel und Faden bleiben dabei nicht nur Mädchen vorbehalten. Stolz erzählt Berger von einem jungen Herrn, der mit ihrer Hilfe ein Ballkleid für seine Freundin anfertigte oder von einem Maurer, der ein Faible für selbst genähte Historienfummel hatte. So strickt sich um Gerlinde Berger ein zartes Netz aus begeisterten Kreativen. „Was könnte schöner sein“, fragt sie, „als wenn jemand beim Kauf einer eigenen Nähmaschine in Jubel ausbricht?“
In der Vorweihnachtszeit ziert das Schaufenster übrigens ein großer Adventskalender, natürlich selbst genäht. Der erste Kunde jedes Tages darf das Türchen öffnen und sich über ein kleines Präsent aus der Schneider-Sphäre freuen.
Nachtrag 2022
Das Nähzentrum ist geschlossen. Inzwischen sind erst eine Nudelfabrik und anschließend ein Burger-Lädchen eingezogen.