Auf einem heißen Pflaster wie der Neustadt tummeln und versammeln sich nicht nur Novitäten wie Turnhallen, vegane Cafés und Erasmusstudenten. Nein, es verschwinden auch Dinge, deren Weggang leise weinend beobachtet werden kann. Hier und da weht noch ein durchweichtes Zettelchen im Frühlingswind, das von der Sehnsucht nach einem am Fahrradständer zurück gelassenen Rehpinscher, einem ramponierten Stofftier, Autoschlüsseln oder jungen Kätzchen kündet. Selten jedoch hört der Neustädter von einer glücklichen Reunion. Wohnungen verschwinden, Fahrräder, Menschen, Galerien, Bäume und Brachflächen. Wobei die Aufmerksamkeit unterschiedlich hoch dosiert ist. Gestohlene Haustiere können sich immerhin darauf verlassen, dass innig nach ihnen gefahndet wird. So mancher Streuner suchte bekanntlich schon das Weite, um endlich piktoral an einer Bauzaunwand Bekanntheit zu erlangen. Willst du was gelten, mach dich selten. Andere Theorien berufen sich auf die schreckliche Gilde der Katzenmafia, die nachts Susi und Strolch von der Straße klaubt, um sie im Zoogeschäft eines Einkaufzentrums zur Weihnachtszeit tierfreundlichen Grabschfanatikern zur Konsumtion freizugeben. Pet-Recycling.
Zweibeinige Lebewesen dagegen verschwinden, in lemminggroßer Zahl besonders sommers, aus freien Stücken im Bermudadreieck, dem Strudel der Nimmerwiederkehr. Ihr physisches Auftauchen am nächsten Abend ist dennoch gewährleistet – ein paradoxes, metaphysisches Phänomen der surrealen Füllosophie. Irdisch und äußerst real bleiben dagegen scheppernde Schlagerklänge, das süße Klingeln leerer Bierflaschen und die grölenden Balzrufe einsamer Ex-Hundebesitzer, die die Leere in ihrem Leben mit Ethanol und Ex-Kätzchenbesitzerinnen füllen wollen. Unangefochtener Gott dieses Kultes bleibt der Kecha-Schamane, der sein Völkchen mit diversen Liquiden in die nebligen Tiefen feucht-dunstiger Sommernächte katapultiert. So manches Gedächtnis ist dabei unwiderruflich abhanden gekommen – da hilft auch keine Suchanzeige mehr.
Wie es im Leben allerdings so ist: für jeden Verlust gibt es einen Ausgleich, dessen Größe und Form vom Karma nicht detailliert festgelegt wurde. Täglich warten in zerfransten Pappkartons in Häusereingängen kleine Geschenke auf den aufmerksamen Finder. Was auf den ersten Blick aussieht wie Müllentsorgung für Motivationsnihilisten, stellt sich für den Mitwirkenden als überraschendes Schenk-Netzwerk heraus. Selbst Objekte, deren Verfallsdatum noch in römischen Zahlen angegeben ist, finden erstaunlicherweise immer wieder einen fürsorglichen Besitzer. Alte Couches, Comic-Hefte, Eierbecher und Besteck, Babyklamotten, Tischchen, Vasen und Kassetten. Ich persönlich bin selbst begeisterter Finder. Meine neue Passion bringt mir regelmäßig Weltliteratur, ungewöhnliche Oberbekleidung und sogar Essen ein. Letzteres ist eine Frage der Hemmschwelle, die ich zu demonstrativen Zwecken gern bereit bin nach unten zu korrigieren. Mein Meisterstück unter den Fundstücken ist ein funktionierender Plattenspieler – der mangels passend gefundener Schallplatten noch etwas auf seinen Einsatz warten muss. (Den ganzen Tag Wagner bewirkt eine undefinierbare Grundstimmung).
Gerade macht sich in der großen gesellschaftlichen Trendfabrik der Minimalismus breit. Radikaler Konsumverzicht, Reduktion und Funktionalität. Eine weise Entscheidung in Anbetracht der riesigen Haufen von Gütern, die sich erst in den Regalen und dann aufgrund geschickt geplanter Obsoleszenz im Müll wiederfinden. Finden ist eine Möglichkeit, sein unbrauchbares Zeug anderen anzubieten. Warum nicht unliebsame Besitztümer zur freien Verfügung stellen, bevor sie den Weg alles Irdischen gehen? Was für den eigenen Gebrauch ungeeignet erscheint, kommt manch anderem gerade recht. Selbst meine geliebten zerschlissenen Jeans waren nach zwei Stunden weg. Ich habe Platz im Schrank für neue Findigkeiten und ein anderer trägt mein abgelebtes Charakter-Blau spazieren. Ein schönes Gefühl, anonymer Samariter zu sein! Etwas entnervend ist es allerdings, wenn Besucher strahlend ein Buch als Gastgeschenk überreichen, das gerade erst den Weg vom eigenen Regal in die „Zum Mitnehmen“-Kiste gefunden hat. Auch die Drohbriefe der Flohmarktzunft unterstreichen die Waghalsigkeit meiner neuen Konsum-Methode. Und wie so mancher Schenker leide ich unter den Ansprüchen der vorbei flanierenden, verwöhnten Finder. Manche nehmen ja noch nicht einmal Kronkorkensammlungen und Knüllpapier mit! Da zeigt sich wieder die Hochnäsigkeit der Konsumgesellschaft!
Weiteres Manko des Findens ist, dass selten genau das aus einem Pappkarton schmult, was man sich gerade für 150 Euro online bestellen wollte. Es ist in diesem Sinne recht irrational und zufällig. Aber diese Tatsache macht es eben auch so charmant: arglos streift man durch die Straßen und findet nach einem verlustreichen Zahnarztbesuch oder am eigenen Geburtstag nach endlosem Warten auf wenigstens eine verirrte Glückwunsch-SMS Freud’s „Trauer und Melancholie“. Das kann selbst unter Realisten als Zeichen gelten! Möglich ist auch, den Haustürschlüssel zu verlieren (oder eben das Gedächtnis) und dann überraschend eine Eiswürfelform auf der Straße zu finden.Das steht in keinem Verhältnis, stimmt aber irgendwie doch milde, weil ja, ist die Haustür erst einmal aufgebrochen, mit dem gewürfelten Eis Mixgetränke und Katerköpfe gekühlt werden können.
Gleichzeitig erfordert die tägliche Anhäufung von Trödel eine Gewichtung: kontinuierlich wird also ausgetauscht und sortiert, wieder auf die Straße gestellt und gesammelt. Ein Intranet Schenkwilliger ohne Geschenkpapier, ohne Dankeskarte, ohne Erwartungsdruck. Wüsste man nicht, dass doch jeder in allererster Linie aus zum Himmel stinkender Faulheit seine Müllkiste nicht auf einen Flohmarkt, sondern nur bis vor die Haustür trägt, könnte man den Menschen für grundsätzlich gut halten.
- Wer lieber online suchen und finden will, dem seien die Neustadt-Geflüster-Kleinanzeigen ans Herz gelegt.
Schönes aktuelles Kopfbild, Anton. Danke.
Irgendwo hier muss man das ja auch mal schreiben. :-)
@ Licht: das ist aber der Philline ihr Kopfbild! ;)
sehr schön geschrieben vielen Dank für die erheiternden Minuten zum Feierabend
Hab gerade erst gestern einen Magnet-Maltisch inklusive sämtlicher Buchstaben und diverser Formen in magnetischer Ausführung für meinen Sohn in einem Eingang gefunden. Ich musste zweimal kontrollieren, ob das jetzt nicht doch noch in einen Umzuglaster geladen werden soll. Kann man ja fast gar nicht glauben.
Gekauft hätte ich mir diese Plasteausgeburt zwar nie, schön finde ich es aber trotzdem, dass sie jetzt im Kinderzimmer steht.
Danke an den Spender.
Schade nur, dass das restliche Angebot heute zehn Meter weiter in einer bekannten Müll- und Siffecke gelandet ist.
Ach ja: Philine, sehr schön geschrieben. Vor allem die Sache mit den Katzen. Ich wüsste ja mal zu gerne, wie viele Vierbeiner wiedergefunden werden. Es stimmt einen immer traurig, nur von den Verlusten und der verzweifelten Suche zu lesen. Ich bitte demnächst um „gefunden“-Aufkleber über alle Suchzettel, die nicht mehr gültig sind. ;-)
Ich mach das auch immer, auf diese Art und Weise Dinge unters Volk bringen. Ich bin stets erstaunt, wie schnell alles weg ist! Meist sind total unterschiedliche Dinge in meinen Kisten – oft denk ich „na, dies oder das wird nicht weggehen“ und trotzdem ist nach 8 Stunden die Kiste leer. STAUN! Leider hab ich noch nie jemanden gesehen, der meine Sachen mitnimmt….
Wie jetzt Phine, du hast aber nicht etwa deine tolle, blaue Jeans verschenkt, die mit den vielen Löchern und dem coolen Schnitt?
Also hier in den Kleinanzeigen gibt’s immer mal wieder eine Erfolgsmeldung.
Nee nee, die bleibt ;)
Sehr unterhaltsam und klug geschrieben.
Und die „Gefunden“-Aufkleber wären wirklich ne positive Sache.
Herrlicher Artikel! Großartig geschrieben. Danke dafür ;)
@krz: Nein, das „Kopfbild“ (so nennt Anton das Foto hier auf seiner Website ganz oben = aktuell die Narzissen im Alaunpark) ist, denke ich, von Anton. Für alle Kopfbilder guckst du hier: http://www.neustadt-ticker.de/dresden-neustadt/kopf-bilder
Da ich nirgendwo eine Möglichkeit gesehen habe, mal ein Kopfbild zu würdigen, habe ich es einfach unter diesen Artikel geschrieben.
Auch das Neustädter Schenknetzwerk ist teilweise digital geworden. Guckt mal auf Facebook nach der Seite share&care Dresden.:-)
geht das auch ohne Facebook???
Sieht eher alles nach Müll aus den die Stadtreinigung entfernen darf.
Echt ein schöner Artikel und super geschrieben. Ich mag die leichte Ironie und die philosophisch angehauchte Wortwahl ;)
Neulich ne kleine Couch aufm Neustadt-Sperrmüll geschossen, fick dich Konsumgesellschaft :P
Wenn sich Flohmärktler und faule Schenker stänkern, sind wir auf einem guten Weg =)
Ach, und Danke natürlich, werd auch mal was vor die Tür stellen =)