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Resig-Nation Neustadt

Königsbrücker Straße am Morgen
Königsbrücker Straße am Morgen
Das Verlässliche an der menschlichen Psyche ist die Vergesslichkeit. Aus überlebensstrategischen Gründen vergisst der Mensch einfach gern und schnell Unangenehmes, indem er sich daran gewöhnt und das Beste daraus macht. Das betrifft Beziehungen im gleichen Maße wie den langweiligen Job, internationale Krisen und Waldschlösschenbrücken. Ein selektives Gedächtnis beschützt den Ottonormal-Homo Faber davor, an spontaner Überforderung einen Herzinfarkt zu erleiden oder mit einer Mossberg 590 wahllos um sich zu schießen. Ein nützliches  Handwerkszeug der Evolution, das sich der Humanparasit noch nicht wegmodifiziert hat. Ganz im Gegensatz zu natürlichen Beleuchtungsverhältnissen.

Erhellung brachten auch die Pläne zur Umgestaltung der Königsbrücker Straße in die infrastrukturellen Ungewissheiten der Neustadt. Jungfräulich, glatt und sauber liegt sie nun vor uns: Die um sieben Meter verbreiterte Straße. Von Fachmännern imaginiert, von Motorisierten ungeduldig erwartet. Mittlerweile gären die Pläne für die Vierspurigkeit so lange vor sich hin, dass ein niet- und nagelfester Beschluss nur mit einem erleichterten „endlich“ quittiert werden kann. Die bürokratisch-planerische Verstopfung hat sich gelöst und schon bald fließt, sprudelt und flutscht es durch die Neustadt. 2017 ist es so weit! Vielleicht. Wahrscheinlich. Mit viel Glück ist die Adipositation der Köni schneller abgehandelt als die Sanierung der Albertbrücke. Die Behelfsbrücke für Fußgänger und Radfahrer mit ihren verquollenen Dielen ist dem Neustädter (Draht-)Esel mittlerweile als Hindernisparcours direkt ein bisschen ans Herz gewachsen und man muss sich vor Demonstrationen in Acht nehmen, die Räumungspläne unterbinden wollen. Allerdings sehe ich persönlich da kein akutes Risiko. Kulturpessimisten faseln immer von Beschleunigung durch Technik, aber die Bagger wühlen langsam. Das Musterbeispiel für Entschleunigung stellen immer noch Dresdner Baustellen dar. Es lohnt nicht in jedem Fall, Berlin als Vorbild zu wählen.

Mehr Platz für den zahllosen Autoverkehr.
Mehr Platz für den zahllosen Autoverkehr.
Nihilisten der wunderbaren Aufpeppung, die der Königsbrücker widerfahren soll, haben den Effizienz- und Optimierungsplänen der Verkehrsfetischisten zu weiche Argumente entgegen gebracht. Lärm? Fehlende Begrünung? VORGÄRTEN?! Das kann doch, beim besten Willen, alles verlegt werden! Ein Baum, der etliche Dekaden dem Auspuff-Mock widerstehen konnte, hat nur bewiesen, dass dies ein anderer Baum an einer anderen Stelle genauso verlässlich erledigen wird. Und die glitschigen, bunten Blätter auf der Fahrbahn im Herbst waren auch kein Vergnügen für das zarte Profil teurer Reifen. Flair schwinde! Ein Baum hat, das weiß jedes Kind, deutlich weniger Funktionen als ein Auto. Vor allem, weil man ihn nicht waschen kann. Des Weiteren befinden sich Bäume in der Unterzahl. Wenn die so toll wären, wie die Fanatiker von Robin Wood immer tun, hätten sie sich gegen uns Menschen durchgesetzt. Hier überlebt der Angepasste. Das gilt auch für Gegendemos. Die konnten nicht direkt als übervölkert bezeichnet werden, wenn es um die Köni ging. Mit Nazis am 13. Februar lockt man da wesentlich mehr Kontrahenten hinter dem politischen Ofen hervor. Insgeheim steht doch jeder auf aalglatte Asphaltstraßen statt hoppelnden Kopfsteinpflasters. Die Bäckerei Rißmann darf auch weiter Brötchen verkaufen und die Linksabbiegerspur vor der Schauburg kann mit viel gutem Willen als ideologisches Entgegenkommen gewertet werden.

Für Fußgänger wird es leider etwas knapper.
Für Fußgänger wird es leider etwas knapper.
Im Endeffekt wird der Neustädter die Fahrbahnverbreiterung genauso gut überstehen wie das Edeka-Hochhaus, den Umbau der Bautzner Straße und die Implantierung des neuen Globus-Tumors. Dank unseres miese Gedächtnisses tut es bald nicht mehr weh. Im Edeka wie im Rewe kauft man tausendmal bequemer Bio ein als in abgelegenen Läden ohne Autobahnanschluss und auf der neuen, fetten Köni rollt der Reifen des Diamant wie von alleine. Fakt ist nur, dass die Neustadt die Schwärme von Touristen nicht ewig mit ihren Jugendsünden halten kann. Wir sind hier ein Vergnügungsbetrieb, der Punks, Galerien und Häuser ausstellt, von denen man behaupten können muss, dass zumindest mal jemand dran gedacht hat, sie zu besetzen. Niemand bezahlt Eintritt für die Freakshow, wenn da nur Omas sitzen und häkeln. Um der Gentrifizierung einen musealen Charakter angedeihen zu lassen, plädiere ich für die Einführung des Neustadtkulturerbes. Kleine Kopfsteinreservate, Kneipenbiotope und Brachflächensperrungen könnten helfen. Ebenso Gedenkschilder für wegrationalisierte Kulturorte. Das sorgt auch für die richtige Prise Dramatik auf Erinnerungsfotos. Attraktions-Exitus verhindern! Vorgestern klingt schon historisch, wenn aus Heute so schnell Damals wird.

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10 Kommentare

  1. Sind demnächst nicht irgendwie Stadtratswahlen? Ideale Gelegenheit, die Befürworter der 4spurigen Köni abzustrafen, wenn da nicht das „Das Verlässliche an der menschlichen Psyche ist die Vergesslichkeit.“ wäre.

  2. fein geschrieben filinchen! quasi ein österliches neustadt-fazit, die eierei um themen, die eigentlich alle nicht ganz vorliegen. der hase ist im detail versteckt. frohe ostern.

    ps: unter den dt. großstädten könnte dresden tatsächlich eine hauptstadt der entschleunigung (genannt „Hades“) werden, wir müssten nur noch die gasgebende beton- und blechfraktion disziplinieren. der rest gibt sich schon genug keine mühe, mal ausm knick zu kommen. eine zielgeplante köni wäre ein gutes startzeichen für die Hades. und weniger hektik führt auch zu mehr aufmerksamkeit – also weniger vergesslichkeit.

  3. Ich finde den Artikel gut, fast etwas poetisch. Nur eines ärgert mich immer wieder die Diskusssion über die Gentrifizierung des Viertels. Jeder Mensch und seine familiären Umstände ändern sich. Kaum ein Punk geht als Punk in Rente (rein reschnerisch müssten die ersten Punks der 80er bereits im Rentenalter sein). Ich selbst wohne nun fast 15 Jahre hier und kenne keine Leute die im etablierten Alter in das „coole Viertel“ bewußt gezogen sind weil sie es sich jetzt leisten können. Vielmehr kommt die Veränderung insbesondere aus den Leuten selbst. Irgendwann entsteigt man dem Studentendasein. Im Umkehrschluss müsste jeder das Viertel verlassen, der nicht mehr der zuvor festgelegten Norm entspricht. Wenn wir die Kreativen im Viertel halten wollen sollten wir uns alle kümmern und Raum schaffen. Die Idee der Alten Feuerwache ist eine solche. Und warum sollte man nicht alle Neustädter ansprechen um im Rahmen eines Vereins die Idee zu unterstützen. Das Crowdfunding für das Filmfest hat doch auch funktioniert. Ich galaube die Neustädter bringen viel zustande wenn sie wollen. Bei der Köni hat es leider nicht geklappt.

  4. @Ali Mente —-> hat dich Philine mal versetzt–> dir nen Korb gegeben,dich verlassen ?! alle finden es gut,du mekkerst….

    bewerbe dich doch als Gastschreiber,machs nach,machs besser !!

    …Danke Philine….

    grussi…. :lol:

  5. Nu, der Artikel ist doch schön – und zeugt zumindest von einer Nicht-Entschleunigung des regen (politischen) Verstandes! Ich würde noch das Netto auf der Kami hinzufügen, zu all den Verhöhnungen der der Demokratie seitens der Politik..

  6. @fino: für selbständige im (Kunst)handwerk ist es in den letzten Jahren signifikant schwieriger geworden bezahlbaren Gewerberaum zu finden. Die ziehen sich damit zwangsläufig aus der Neustadt zurück bzw. fangen hier garnicht erst an. Das große Erwachen kommt dann, wenn niemand mehr da ist der sich für den Erhalt des (eigenen) kulturellen Biotops mehr stark macht.

  7. Starker Text!
    Danke.

    „Dank unseres miese(N) Gedächtnisses“
    ->Bidde.

    Das Gedächtnis ist aber nicht Schuld, sondern die Anpassungsfähigkeit. Nur weil man unschöne Realität akzeptiert hat man die Vergangenheit ja nicht zwangsläufig vergessen.
    Ich werde immer eine Träne verdrücken, wenn ich an der Elbe Richtung WSB gehe. Fast immer drehe ich am Diako um. Hab ich früher fast nie gemacht.
    Denke nicht dass mein Gedächtnis viel besser ist als das anderer.
    Sei’s drum.
    Resigniert hab ich schon lange.

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