Bunte Republik Neustadt: Freitag Abend kurz vor Mitternacht. Der Vollmond sorgt für Scheinwerferlicht auf dem Martin-Luther-Platz. Vor der Rockbühne tummeln sich Gesichter, große und kleine, eckige und runde. „Die Kunst ist tot, es leben die Maschinen.“ – atmen nicht vergessen. Die Gesichter wippen hin und her, die dazugehörigen Körper pulsieren im Kreis. Sie scheinen, sich untereinander vertraut zu sein. Alte Freunde und Bekannte. „Die Kunst ist tot“ – Bestürzung und Verzweiflung. Die Maschinen, das sind wir. 2011 wurde der Stadt Dresden ein Kind geboren. Es hört auf den einzigartigen Namen „Leo Hört Rauschen“. Es ist ein Experiment vier junger Künstler in Röhrenjeans. „Du marschierst, wir marschieren“ – das Publikum gehorcht. „Wir marschieren, wie Maschinen“ – Maik Wieden, Uwe Hauptvogel, Albrecht Kern und Marius Jurtz haben den Luther-Platz unter Kontrolle. Der Mix aus Indie und Wave hat alle in den Bann gezogen. Entkommen? Zwecklos.
„100 Jahre Freizeit, das ist unsere Freiheit.Und wir ziehen mit dem Wind, bis wir angekommen sind. Das ist ein guter Versuch, für den der kein Problem hat mit dem Betrug, mit der Kleinigkeit. Den Mauern die wir bauen, zu vertrauen auf Ewigkeit. Vielleicht ist es angebracht, wie ein Lauffeuer transportiert die Nacht. Durch Beton und Stein, in allem was uns bleibt, zu sein.“
Vor dem Konzert erklärte sich Maik Wieden – Frontman, Entertainer und Poet bei „Leo Hört Rauschen“ – dazu bereit, sein Herz auszuschütten und seine Worte tanzen zu lassen. Musik, Kunst und Theater: all das verkörpern die Jungs von Leo. „Mut“ und „Leidenschaft“ – Mut zur Leidenschaft! Das Ergebnis muss man selbst erlebt haben.
Maik, wenn du „Leo Hört Rauschen“ mit zehn Adjektiven beschreiben solltest, wie würden diese lauten?
10xMaschinenraum – sorry, aber so ein Substantiv macht einfach bessere Bilder.
„Leo Hört Rauschen“: ungewöhnlich, spannend, komatös – Maik, Was steckt dahinter?
Maik: Wir haben uns über Monate hinweg dermaßen den Kopf zerbrochen, dass wir unzählige Zettel mit Namen hatten. Die wurden dann zeitweise wieder zerrissen oder weggeworfen. Irgendwie stolperte ich über das Buch „Überm Rauschen“ von Norbert Scheuer. So ein kleineres Taschenbuch. Darin wurde die Geschichte erzählt, wie der Ich-Erzähler Leo, nach vielen Jahren zurück in seine Heimat in die Eifel fährt und sich vieles verändert hat. Sein Bruder ist inzwischen geisteskrank und sein Vater gestorben. Leo erzählt von alten Geschichten, Legenden und Erinnerungen, vom Fisch der Weisheit und der ungeliebten Angelsucht seines Vaters. Sein Elternhaus ist eine am Fluss gelegene Gastwirtschaft; Unweit des Hauses steht ein Wehr. Er ist oft an diesem Wehr – dort wo das Wasser des Flusses runterrauscht. Dieses Rauschen ist so laut, dass es ihn ähnlich der Trance betäubt. Im Grunde genommen, führt ihn dieses beständige Toben des Wassers in eine innere Ruhe, aus der er die Dinge klarer betrachten kann. Ein spirituelles und dennoch bürgerliches Werk. Wir können nicht behaupten, dieses Buch habe entschieden zum Namen geführt, aber es gab uns gute Bilder. Und schließlich, durch nicht mehr nachvollziehbare Kombinationen… TATA! Das war aber auch eine schwierige Geburt. Manchmal saßen wir zusammen und keiner hat etwas gesagt, alle haben geschwiegen und vor sich hin gestarrt. Auch der Gedanke, Alkohol oder lustige Kräuterzigaretten werden es schon richten, bestrafte uns mit apathischer Leere. Ohne klaren Kopf war es überraschender Weise noch viel schwieriger.
Lisa: Dann konnte es richtig losgehen: Mit poetischen Texten und geballter Energie ging es ins Studio Erde nach Berlin. Heraus kam die EP „100 Jahre Freizeit“ – eine Mahnung an die Musikindustrie unserer Tage. Eure Texte fordern einiges vom Zuhörer, lassen viel spannungsreichen Raum für Interpretation, während die Instrumente präzise wie ein Uhrwerk wälzen. Die Bühne wird zur Leinwand, Melodie und Text verschmelzen zu einem Kunstwerk. Sie wecken Emotionen, die sich für jeden Betrachter einzigartig anfühlen. Als ich mir das erste Mal euer Musikvideo zu „Gold“ angesehen habe, überkam mich sichtliche Verwirrung: „Was wir waren, das seid ihr. Was wir sind, werdet ihr“, heißt es in dem Song. Ein verletzlicher und unschuldig anmutender Körper, umhüllt von einem weißen Schleier badet in einer Wanne, gefüllt mit rotem Blut (oder Farbe?). Deine mahnende Stimme spricht aus dem Körper und verschwindet wieder. Zwei Welten, zwei Zeiten, die gleiche Geschichte in zwei unterschiedlichen Körpern, möchte man meinen. Altes färbt ab auf Neues, das Neue wäre nicht dasselbe ohne das Alte. Vergangenheit und Gegenwart – für immer vereint.
Ist es tatsächlich ein gewöhnliches Musikvideo oder doch eher ein kunstvolles Drama? Welche Geschichte steckt hinter „Gold?“
Maik: Gold ist ein Drama. Eher ein Spiegel des täglichen Dramas, das wir Leben nennen. Dargestellt sind die Metamorphosen der menschlichen Anpassung. Vom unschuldigen Kind hin zum vergewaltigten Erwachsenen. Der Mensch als fremdbestimmte Arbeitsbiene in den Händen gesichtsloser Systeme. Unschuld, unbewusste Schuld, Aufbegehren, Anpassung. Ich bin durchaus ein Menschenfreund, aber der Mensch als Masse ist mir fremd. Ich glaube an das Individuum. An seine Kraft der Selbsterkennung und der Selbstbestimmung. Die Ablenkungen der heutigen Zeit, die Einbahnstraßen staatlich verordneter Zwangs-Schulbildung, alarmieren, dass sich nach Chaos sehnende Kind in uns. Wir haben ein scheinbar humanistisches Netz an Regeln und Konventionen zurecht berechnet, dass weder unserer Natur entspricht, noch die Absicht hat, uns als Einzelnen wert zu schätzen. „Wir sind Gold“ ist eine Parole, die sich jeder ohne schlechtes Gewissen sagen kann. Eine Parole von vielen, die uns wieder zu uns führen kann, wenn wir wollen. Viele von uns da draußen, trauen sich weniger zu als sie im Stande sind zu bewegen. Damit meine ich vor allem, die Bewegung in einem Selbst.
Lisa: Dass ihr auch schauspielerisches Talent zu eurem Künstler-Repertoire zählen könnt, beweist eure Mitwirkung im Juni 2013 an der Theaterproduktion „Radikal Büchner“ für das ZDF Kultur. Eine Woche lang habt ihr euch dem Zorn Georg Büchners hingegeben und im Weltkulturerbe Bauhaus Dessau gemeinsam mit anderen Künstlern ein einzigartiges Bühnenstück erarbeitet und inszeniert.
Welche Rolle spielte Leo Hört Rauschen in dem Stück? Was war das für ein Gefühl, als plötzlich aus vier Band-Mitgliedern eine große Künstler-Familie wurde?
Maik: Die Bauhauswoche war eine intensive Zeit in jeder Hinsicht. Es hat uns überwältigt, in den sonst kaum zugänglichen Arbeitsräumen die Instrumente auf den blanken Beton zu stellen und oft bis spät in die Nacht zu proben. Das alles erledigt man in diesem Haus mit großer Sorgfalt und Respekt. Hinzu kamen die eigentümlichen Charaktere der teilnehmenden Künstler. Künstlerfamilie trifft‘s ganz gut. Ständig geht die Tür auf und ein anderer Wahnsinniger kritzelt seine Ideen an die Wand. Das war für uns als Gruppe ein neues Gefühl, doch geschah dieses Verwachsen, im Prozess wie von allein. Die gewohnte Intimität brach bereitwillig nach außen auf und Autoren, Musiker und Schauspieler, ergänzten sich bis hin zur heiligen Performance. Es ist verrückt was passiert, wenn die verschiedene Künste einander begegnen und immer irgendwer greifbar ist, der genau das umsetzen kann, zu dem man selbst grad nicht in der Lage ist. Es war das Paradies für jeden fixen Kopf für alle ein Geschenk. Allen voran verwöhnten die Diskussionen, das Probieren und Verwerfen von Ideen, was alle Beteiligten in einer Woche intensiver entwickelte, als alles was wir vorher als Musiker erlebt hatten. Künstlerisch wie auch persönlich. Von unserer Rolle in dem Stück, darf sich jeder gerne selbst einen Eindruck verschaffen, indem man dem Link zum Beitrag im zdf.kultur folgt.
Lisa: Heut Abend um 23:45 Uhr laden Uwe, Albrecht, Marius und du, alle Freunde der alternativen Rockmusik zum Mitsingen und Mittanzen, aber auch zum Nachdenken und Philosophieren vor die Rockbühne am Martin-Luther-Platz ein.
Böse Zungen behaupten, die BRN wäre nicht mehr wie früher. Wie empfindest du das im Rückblick auf eure Bandgeschichte? Warum zieht es euch auch noch nach Jahren auf eine der „kleinen“ BRN-Bühnen?
Maik: Die BRN ist bunt und glänzt. Das zieht viele Elstern an. Ich persönlich mag keine Zoo’s und viele Gäste kommen ausschließlich zum Gaffen. Ich wünsche mir eine kleinere, bewusstere BRN. In der Talstraße und auf dem Lutherplatz ist es schön. Ich denke, wir werden uns noch ein paar Bands rauspicken und auf irgendwelchen Hinterhöfen pogen. Ich selbst hab 2005 das erste Mal mit einer Punkband auf der BRN gespielt. Und zwar nachmittags im Alaunpark bei 30 Grad und vor einem Haufen besoffener, grölender Irokesenpeitschen. Abends standen dann die Venusshells auf der Bühne. Ich habe sie geliebt! Die Cafe Neustadt-Bühne (Rockbühne) auf dem Lutherplatz zähle ich allerdings eher zu einer der größeren Bühnen.
Dürfen wird schon bald mit einem neuen Album rechnen? Sind bereits weitere Projekte in Planung?
Zweimal Ja! Unser Debüt- Album kommt gegen Oktober in die Läden und in wenigen Wochen drücken wir schon vorab zwei Songs plus Video durch den Äther. Es wird ein Album für die Nacht. Teils Sphärisch, teils spröde und mittendrinn eine Menge klarer Worte. Wir freuen uns drauf und werden wohl selbst erst wissen wie es klingt, wenn es fix und fertig ist.
Maik, bevor ich mich mental auf euren Auftritt vorbereite, gibt es noch einen letzten Satz, der dir auf deiner Musiker-Seele brennt?
Maik: Unbedingt. Darf ich auch Zwei? Danke. Ich wünsche mir eine Bar in unserem Bus. Ständig fliegen die Flaschen durch die Gegend und ein 20 Grad warmer Bourbon schmeckt einfach nicht.
Die Nacht hat die Bunte Republik eingenommen. Elstern, flattern vom Martin-Luther-Platz. Zootiere, gehen nach Hause. Der Rest bleibt. Wo ist das Individuum? Es schlummert. Aufwecken!
- Weitere Informationen
- Leo hört Rauschen, Booking unter E-Mail: booking@leohoertrauschen.de
- Weitere Informationen auf www.leohoertrauschen.de oder auf Facebook