Zugfahrten kann man sich schön reden. Wenn die Gleise bis zum Meer führen zum Beispiel. Oder wenn in es in dem Rumpelzug nach Prag noch Abteile gibt, in denen der quarzige Duft der Fenstervorhänge noch von Raucherabteil-Zeiten kündet. Führt die Zugfahrt jedoch regelmäßig auf Arbeit und zurück, wird sie schon einmal zum Spießrutenlauf. Verspätung, Gedrängel, monotone Lautsprecherdurchsagen und das entnervende Gefühl, die letzte Station komme niemals. Fast nicht nachzuvollziehen ist in diesem Zusammenhang die Euphorie, die Anfang des 19. Jahrhunderts hochschwappte und das Eisenross zu einer Allegorie für Fortschritt und den modernen Gedanken von Gleichberechtigung und Einheit machte.
Tatsächlich wünschte ich mir in dem Moment, in dem mir jemand seinen Koffer aus dem Gepäckfach auf den Kopf demmelt, ich könnte fort schreiten. Mit meinen Füßen. Gelegentlich fantasiere ich auch von Menschen, die sich keinen leuchtenden Bildschirm wie ein Brett vor den Kopf halten, sondern ein Buch. Und das jemand tatsächlich pfeift, und nicht nur wieder ein naturalistischer Klingelton zum Narren hält. Dann klopfe ich gedanklich Jean Paul Sartre auf die Schulter und nicke im zu: Es gibt vielleicht schönere Zeiten, aber diese ist die unsere.
Kulturpessimismus ging mit Technikeuphorie Hand in Hand. Nietzsche, der personifizierte Nihilismus, war der festen Überzeugung, das einzige Glück des Menschen bestehe in seiner Endlichkeit. Ortega dy Gasset vermutete, dass die gesteuerte Konsumgier der Massen alternative Minderheiten unterdrücke. Kapitalismus und Vermassung als Diktatur. Medien als verblendendes Kontrollinstrument. So unrecht haben sie nicht. Mutti Merkel war gerade dabei, Chlorhühnchen in Kooperation mit den USA zum allgemeinen Lebensmittelstandard zu erheben. Weil billig und viel. Und Kohle für die Konzerne. Dann war sie aber doch zu konfus, weil es Doppelagenten gibt. Die Abhöraktion des Kanzlerhandys hatte sie noch nicht misstrauisch genug gemacht. Ich gedenke, Angie mal auf einen gemütlichen James-Bond-Abend einzuladen, damit sie die harten Fakten lernt.
Aber dazu braucht es ja wieder einen Flatscreen! Und auch ich muss mich langsam (welch‘ Wort in den Zusammenhang!) darauf einstellen, demnächst ein intelligentes Telefon zu besitzen. Sonst hängt man mich ab wie den Kohlewaggon an der Eisenbahn. Dann werde ich mit halboffenem Mund und entgleisten Gesichtszügen umherlaufen und meine Bücher dienen nur noch als Unterlage für kippelnde Stühle.
Auf der letzten Zugfahrt las ich Kurt Tucholsky, Schloss Gripsholm. Peter und die Prinzessin dampfen mit dem Zug nach Schweden. Den ganzen Sommer verbringen sie dort. Kann sich das jemand vorstellen? Ohne Onlineticket und Bildschirm? Mit nur einem Telefon? Und das hängt an der Wand? Das Buch war halb aufgegessen, als ich in Dresden aus dem Zug stieg. Die Luft war mild, die Party irgendwann langweilig. Und dann saßen wir an der Elbe, mein Herzens-Peter und ich. Es war Nebel über dem Wasser, der Mond schien. Und wir setzten uns abwechselnd die Kopfhörer auf und hörten die Moldau von Smetana. Mit einem Smartphone.
Mit den Worten des großen Henry David Thoreau: „Siehe da! Die
Menschen sind die Werkzeuge ihrer Werkzeuge geworden…Den Reichtum eines Menschen kann man an den Dingen messen, die er entbehren kann, ohne seine gute Laune zu verlieren.
Wenn (der Mensch) die Dinge hat, die zum Leben nötig sind, so gibt es noch andere Bestrebungen, als sich um das Überflüssige zu bemühen: es steht ihm jetzt frei, sich dem Leben selbst zuzuwenden…
…“moderne Errungenschaften“: wir täuschen uns. Nicht immer bedeuten sie tatsächlich einen Vorteil. Der Teufel verlangt von seiner ersten bis zur letzten Investitierung Zins und Zinseszins auf Heller und Pfennig. Unsere Erfindungen sind meistens niedliche Spielsachen, die unsere Aufmerksamkeit von ernsten Dingen ablenken. Sie sind nur verbesserte Mittel zu einem unverbesserten Zweck – … Wir haben es sehr eilig eine telegraphische Verbindung zwischen Maine und Texas einzurichten. Aber Maine und Texas haben sich eventuell gar nichts Wichtiges mitzuteilen. Die Hauptsache besteht nicht darin schnell, sondern vernünftig zu sprechen.“
Technikgläubigkeit und oft esoterisch aufgeladene Technikfeindlichkeit sind nur zwei Seiten einer Medaille: Die Fetischisierung oder Tabuisierung von technischen Werkzeugen sind beides irrationale Auswüchse einer Gesellschaftsordnung, in welcher sich der Mensch von seinen Produkten, seiner Wlt, sich selbst immer mehr entfremdet. Entfremdet, indem der Produzent sich und seinen Zweck nicht mehr in seinem Produkt erkennt. Entfremdet durch Produktion für einen anonymen Markt, Fremdbestimmtheit, nicht Herr über sein Produkt.
Dazu schreibt Arendt: „(In) ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholdern, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben, bzw. die Empfindungen zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig „beruhigt“ desto besser und reibungsloser „funktionieren“ zu können.“
Zur Thematik unbedingt empfehlenswert: „Weile statt Eile“ von Bertrand Stern! Gebraucht im Onlinegeschäft oft für eine handvoll Cents zu haben.
„Und auch ich muss mich langsam (welch’ Wort in den Zusammenhang!) darauf einstellen, demnächst ein intelligentes Telefon zu besitzen. Sonst hängt man mich ab wie den Kohlewaggon an der Eisenbahn. Dann werde ich mit halboffenem Mund und entgleisten Gesichtszügen umherlaufen und meine Bücher dienen nur noch als Unterlage für kippelnde Stühle.“
Seh den Zusammenhang nicht: ohne smartphone kann man nicht mehr lesen??
Ja, es wird schwerer, sich zu verabreden. „Wir telefonier’n nochmal…“ „Wo bist Du grad?“ Unverbindlichkeit, nicht festlegen wollen, Freiheit bis zur letzten Minute (und darüber hinaus: die neue Pünktlichkeit: Ich ruf 5 Minuten vor dem Termin an, dass es doch später wird…) Alles in allem eher ein gesellschaftliches als ein technisches Phänomen. Aber auch ohne smartphone ist es möglich, Kontakte zu halten (noch leichter ist es, Kontakte zu knüpfen, denn man sieht die Leute um sich herum!). Und wer nicht in der Lage ist, mit seinen handylosen Freunden in Kontakt zu bleiben, ist vllt. einfach kein richtiger Freund!
Haste schoen geschrieben, Philine. Daumen hoch.