Es ist als würde „Spiel mir das Lied vom Tod“ ertönen, doch Musik ist keine zu hören. Stattdessen säuselt ein furchteinflößendes Wispern durch die Luft. Es ist die Stimme meines Gewissens, so meine Vermutung. „Du bist zu spät!“, schreit es mich an. Sekunden später realisiere ich, dass nicht mein Gewissen, sondern Thomas Jurisch es ist, der mich dank Funkmikrofon versteckt aus einer Ecke kurz vor seinem Auftritt, zum Schwitzen bringt. Nackte Angst bahnt sich durch meine Glieder, angestrengt versuche ich mein frischgezapftes Guinness nicht zu verschütten. Auf dem Weg von der Bar in Richtung Kinosaal schreibe ich gedanklich mein Testament. Juris mahnender Blick verrät: Ich würde die nächsten zweieinhalb Stunden nicht unbeschadet überstehen. Challenge accepted, das Ende bleibt ungewiss. Tatort Dresden Schauburg. 160 Opfer wird es an diesem Abend geben.
Regeln eines Wahnsinnigen
Juris dynamischen Schnaufen bringt die Suppe zum Kochen, die Zahnräder in seinem Kopf klappern und quietschen, seine Lippen wappnen sich für einen verbalen Festtagsschmaus. Man kann ihn förmlich denken hören:
„Regel Nummer 1: Dem Publikum ordentlich das Gehirn wegblasen, bevor es eine faire Chance hat, über Gehörtes nachzudenken. Check. Regel Nummer 2: Einheimsen, was einzuheimsen geht oder anders ausgedrückt: „Analoges Ground Founding“. Ein Werthers Original, ein Popcorn und ein rotes Gummibärchen – keine schlechte Ausbeute. Check. Regel Nummer 3: Im Vorfeld Warnhinweise aussprechen – legitimiert Sexismus und den ganzen anderen Quatsch: „Wenn Sie schwarzen Humor nicht verstehen, Markus Lanz-Fan oder schwanger sein sollten, haben Sie jetzt die Chance den Raum zu verlassen und sich mit Selbstmitleid zu besaufen.“ Check. Memo an mich selbst: Ich bin nicht Homer Simpson, der Affe mit den klirrenden Becken in meinem Kopf ist nicht real.“
Eskalation? Na klar!
Die Show beginnt mit intimen Einblicken ins Leben des Künstlers: Yvonne Catterfelds „Wolkensong“ sorgte eines Morgens für Verwirrung als er mit der Melodie aber ohne Text im Ohr aufwachte. Die zweite Hiobsbotschaft kam gleich hinterher: Tokio Hotel verkündet „Mega-Comeback bei ‚Wetten, dass…’“ – wir erfahren, dass er ohne tägliche Dosis Bild-Headlines nicht arbeitsfähig wäre. Der Dresdner Wort-Akrobat fühlt sich sichtlich wohl in der Rolle eines politisch-nicht-ganz-so-korrekten Diktators. Widerspruch – zwecklos. Erotik im Kinosaal – erwünscht. Sämtliche Technik dient als Tatwerkzeug für den angekündigten Massenmord. Das Publikum badet in Ekstase, wie ein sabbernder Hund hofft es auf Befriedigung. Einem „übel fetzigen Abend zwischen Spontanlyrik und prosaischer Kleingeistleistung unterhalb der Gürtelrose“ steht nichts mehr im Wege. Die Eskalation ist unaufhaltbar.
Ungeschönte Wahrheiten
Die schönsten Geschichten schreibt das Leben, es ist das tägliche Brot von RTL und Co. So auch von Thomas Jurisch, dem „Maschinengewehr Gottes“. Ungeschönte Wahrheit tut immer weh, wohlbehütete Illusionen spätestens dann, wenn man zum Aufwachen gezwungen wird: „Denn wo nichts ist, kann auch nichts sein. Es sei denn, man tut da etwas hin, damit da was wäre.“, lernen wir in der abendlichen Philosophenstunde vom Meister persönlich. So langsam beginnt das Weltbild der Anwesenden zu bröckeln, Sauerstoffmasken gegen die Schnappatmung werden über die Sitzlehnen gereicht. Da hilft es auch nicht zu wissen, dass man von einem Staat mit einer Kanzlerin an der Spitze „viel freundlicher gefickt wird“. Schließlich sind es Senfgurken aus dem „volkseigenen Betrieb Ernst Thälmanns in Eberswalde“, welche die Gemüter besänftigen. Wir ahnen, das ist die Ruhe vor dem Sturm..
„Naked Run endet im Knast
Vielleicht erinnert sich der ein oder andere noch an eine Schlagzeile der SZ-Online aus dem Jahr 2005: „Nackig auf der BRN – Kneipenkönig festgenommen“, war dort zu lesen. Geschichtenerzähler Jurisch kramt in seiner Erinnerungskiste und findet Folgendes: Eines Freitags abends traf sich eine Gruppe junger seriöser Männer im Café Europa, geheime BRN-Pläne wurden ausgeheckt. „Wie wäre es, wenn wir uns verhaften lassen und auf dem Rücksitz des Polizeifahrzeugs gemeinschaftlich onanieren“, so Juris Vorschlag. Beifall erhielt er dafür keinen.
Doch die Geschichte sollte weiter gehen. Schwarz-rot-golde Mickey Mouse-Fahnen verrieten: die BRN feiert Geburtstag. Eines Abends zog Andreas Preuß, besser bekannt als Neustädter Kneipenkönig, mit vier nackten Waschbärbäuchen im Schlepptau los, um gegen Heidi Klums Schlankheitswahn zu demonstrieren. Aus Richtung Assi-Eck kommend, noch bevor sie ihr Ziel an Katy’s Garage erreichen konnten, fiel die angeheiterte Gruppe dem wahnsinnigen Poeten Thomas Jurisch in die Arme. Sogleich bestimmten exhibitionistische Gelüste seine Gedanken. „Schlüppi runter und los gehts“, niemand der Truppe ahnte, dass der „Naked Run“ direkt in den gesetzgeilen Fängen baden-württembergischer Polizeibeamter enden würde. Später im Sixpack: „Fett, wir sitzen im Bullenauto“, sprudelte es aus Juris Mund. Zu schade, dass Kabelbinder die Hände der Insassen hinter ihren Rücken fixierten. „Och ney, der will, dass ich ihm einen runterhole“, jammerte Thomas Sitznachbar vor sich hin. Endstation: Ausnüchterungszelle Schießgasse. Doch das ist schon wieder eine andere Geschichte.
Tatort Schauburg endet mit Happy End
Körperlich unversehrt, aber geistig verstört, entlässt Thomas Jurisch 160 Schauburg-Besucher in die angebrochene Nacht. Sie werden wieder kommen. Jedes Mal werden es mehr, Juris Harem wächst und wächst. Es sind die bösen Grotesken des Lebens, welche in Jurischs Texten Leben eingehaucht bekommen. Mit poetischer Zärtlichkeit gelingt es ihm, selbst die derbsten Witze pointiert aufzulösen. Durch große Liebe zum Detail und künstlerischem Ehrgeiz wurde der Dresdner über die Jahre zum deutschlandweiten Publikumsmagneten und räumte mehrere Preise ab.
Im nächsten Jahr hat der Poetenflüsterer Großes vor: „Ein eigenes Varieté mit dem Fokus auf Kleinkunst, Lesungen und liebevoller Unterhaltung“ , wird er aus dem Boden heben – was sich genau dahinter verbirgt, wird noch nicht verraten. Wer bis dahin nicht auf Jurisch verzichten möchte, kann sich in den nächsten Wochen beim „Comedy Slam“ oder dem „Lachpalast“ im Totlachen üben. Das vollständige Programm gibt es auf: www.poetenfluesterer.de.