Die Tür geht auf. Ein Kerl füllt den Rahmen aus. Haare, schwarz und fettig, bis zu den Schultern. Unwirsch schiebt er den Vorhang beiseite. „Ein Hefeweizen, zwei Pils und drei Wodka!“, donnert er in den Raum. Die übrigen Gäste, denen man sonst nachsagt, dass nix schräg genug sein kann, sie schauen jetzt doch pikiert von ihren Tellern auf. Es ist kurz vor 12 Uhr – beste Frühstückszeit.
Inzwischen hat sich der Hüne, groß und breit, in den Raum geschoben. Findet vor dem Tresen einen freien Tisch. Er schnappt sich einen Stuhl, lässt sich fallen und…
Mit einem Unheil verkündenden Krachen bricht der Stuhl zusammen. Die zwei Burschen, die er mitgeschleppt hat, beginnen lauthals zu lachen. Mir ist merkwürdig. Doch er rappelt sich schnell hoch: „Wollt ihr mich loswerden, haha, nicht geglückt, wo bleibt mein Hefe?“ Ich eile, bin Frühstückskellner.
Wir schreiben das Jahr 1993 und der oder die „ReiterIn“ hat sich seit ein paar Wochen von einer chronisch defizitären Künstler-Spelunke in ein hochprofitables Szenelokal verwandelt. In diesem Hort des Frühkapitalismus habe ich damals im wahrsten Sinne des Wortes meine Brötchen verdient, denn wenn vom Frühstück welche übrig blieben, durfte ich die mitnehmen. Aber meist war extrem scharf kalkuliert und so blieben für vier Stunden Frühstücksdienst nur 40 Mark plus Mini-Trinkgeld. Die damals dort versammelte Neustadt-Bohème zeigte sich ziemlich knausrig.
Die Karte war knapp, es gab vier verschiedene Frühstückssorten, süß und herzhaft, groß und klein. Wenn wir um 11 Uhr die Eck-Kneipe aufgesperrt haben, tummelte sich der Vorabend-Rauch hinaus und die Leute strömten herein. In der Regel waren um Viertel Zwölf alle zehn Tische besetzt. Mit Ausnahme des Kellnertischs am Ofen. Der war stets reserviert für Rauchpausen oder Freunde des Personals.
In der Küche wurde dann gerödelt. Die Salami und der Kochschinken waren schon geschnitten, die Butter portioniert, zwei große Pötte mit Quark und Joghurt angerührt. Kleine Schälchen mit Marmelade und Honig und, ganz extravagant, mit Nutella (Neuheit!) gefüllt. Eier gab es hart oder weich, Kaffee schwarz oder weiß und natürlich gefiltert. Gegen Ende der Schicht konnte es schon mal passieren, dass der ein bisschen dünner wurde. Denn statt immer wieder den Filter zu wechseln, haben wir oft nur ein paar weitere Löffel Tschibo-Pulver draufgeschippt.
Dem mittelstark verkaterten Publikum fiel das in der Regel auch gar nicht auf. Die meisten waren froh, wenn das Frühstück dann überhaupt noch kam, denn der letzte der zehn Tische wurde erst kurz vor halb eins bedient.
Und genau in diese heiße Phase platzen nun meine drei trinkfreudigen Gäste. Wie sich herausstellt, sind die gar nicht verkatert, sondern kommen geradewegs aus dem Panzerhof von einer Techno-Party. Mit Bier und Wodka kann ich sie für eine Weile ruhig stellen. Doch dann zupft mir der Wortführer heftig an der Schürze. Mit Glück verhindere ich den Absturz von zwei Tellern, drei Kaffeetassen und einem Eierbecher. „Mach mal die rein“, kommandiert er und legt mir auf einen der Teller eine Magnetband-Kassette. Dem jüngeren Publikum empfehle ich den Begriff zu googeln.
Ich schaffe das Geschirr in die Küche und starre auf das Tape: „Grateful Dead – was ist denn das für ein Hippie-Mist?“
Oh, das habe ich wohl laut gesagt.
Mit einem Affenzahn reißt er seinen fetten Hintern hoch. Der Stuhl fällt polternd durch die halbe Kneipe. Er schnappt sich sein Hefe-Glas und wirft in meine Richtung. Ich kann mich gerade noch wegducken. Es landet im Regal zwischen Jim Beams und Johnnie Walker, zerschellt an der Wand und der Schaum folgt sabbernd der Schwerkraft.
Plötzlich sind wir beide nüchtern. Mein Kellnerstress ist wie weggeblasen und auch er schaut jetzt nüchtern drein. „Mach einfach die Musik an.“ Seine Kumpel lachen wieder laut – nochmal drei Wodka. Wortlos stelle ich ihnen die Flasche auf den Tisch. „Bedient euch doch selber!“. Nehme mir den Scheuerhader und den Schrubber und entferne das Hefeweizen vom Boden. Ums Regal kann ich mich später kümmern.
Plötzlich werden mir von alle Tischen Zahlungswünsche zugerufen. Um 13 Uhr ist die Kneipe leer. Ich kann in Ruhe das Regal putzen und mir dann gemütlich am Kellnertisch ein Zigarettchen drehen. Die drei Burschen haben inzwischen den Blues. Die Wodka-Pulle ist fast alle und auf dem Zettel stehen schon mehr als zehn Bier. Den Frühstückskoch hab ich nach Hause geschickt und zähle nun die Minuten. Im Hintergrund rauscht der Hippiekram, aber das werde ich wohl nicht nochmal laut sagen.
Punkt 14 Uhr gehe ich zu den Dreien hin. „Jungs, ich will Schluss machen.“ Einer der beiden Kompagnons fragt nach der Rechnung: 83 Mark – er knallt mir Clara Schumann hin, grinst. Der Rest ist für die Unannehmlichkeiten – und wir nehmen ihn jetzt mit. Da lacht das Kellnerherz. Gemeinsam stemmen wir den Fetten hoch und sie hieven ihn aus der Tür.
Nachspiel: Eine Woche später, kurz vor 10 Uhr. Wir hatten gerade mit den Vorbereitungen fürs Frühstück begonnen, als es an der Tür hämmert. Ich öffne. Vor mir steht der fette Hippie. Ganz nüchtern und schüchtern sagt er: „Wollte mich nochmal entschuldigen wegen neulich. Muss ich noch was zahlen?“
Schon gut, meine ich, stecke ihm das Grateful-Dead-Tape zu und grinse: Demnächst keine Musik-Wünsche mehr in diesem Lokal.
- War früher alles besser? Als kleine Erinnerungsstütze an die frühen 1990er Jahre veröffentliche ich in loser Folge ein paar Geschichten über die wilde Zeit von damals.
Alle Geschichten unter #Früher-war-alles-besser?
Diese und viele andere Geschichten gibt es auch in gedruckter Form in dem Buch „Anton und der Pistolenmann“.
Und noch ein Nachspiel: Das Kneipchen musste später von der Ecke Sebnitzer/Kamenzer Straße weichen, nach einem kurzen Gastspiel im Stadtteilhaus lebte es auf der Görlitzer Straße nochmal richtig auf, um dann endgültig zu schließen. Nachzulesen hier.
Da werden Erinnerungen wach! Die alte ReiterIn. Ich habe noch immer den leicht muffigen Geruch in der Nase, der wohl aus den Teppichen kam. Jedenfalls kam der Geruch mit in die neue ReiterIn, auch wenn sonst alles anders war.
Am Kaminofen saß im Winter auch immer ein geduldeter Obdachloser, der sehr höflich bei den Gästen eine Priese Tabak gegen ein Päckchen Streichhölzer tauschen wollte. Ich hab leider vergessen wie er hieß.
Sehr schöne Geschichte. Ob früher alles besser war? Na, ich weiß nicht. Aber bunter war’s auf jeden Fall.
@abrazzo: Kurt oder Hochwürden
Nö, ich meine keinen von beiden. Die waren doch meistens im Scheunegarten und haben da Bücher vertickt. Der, den ich meine war etwas jünger und eher schüchtern
…grins…
Aaaach Jaaaaa, das waren Zeiten!
das einzige, was am Reiter wirklich nüscht war, war das Frühstück. :-)
Dafür konnte man am Nachmittag auf dem Heimweg Willi einen Eimer Kohlen für den Kachelofen hochschleppen. Dann hatte man (und alle anderen) es später schön gemütlich in der verqualmten Bude.
Erinnert sei auch an so schicke Kellnerinnen wie Jule oder Betsi. Jörg war einfach nur nervig. Schade, dass damals Wolf und Suse andere Pläne hatten. damit begann der „Sterbeprozess“ des Reiters.
Mensch Anton, mach doch mal einen Kontest auf, wer sich noch alles an die Klosprüche im ReiterIn erinner! Das wäre doch was. „Das Reh springt hoch, das Reh springt weit, warum auch nicht, es hat ja Zeit“ oder der geliebte „Nazis, follow your leader, commit suicide!“ War ne geile Kneipe.
Wer hat eigentlich das Frühstück in der Küche verzapft damals. Der wunderbare Juri sicher nicht.
Weiß von ihm jemand etwas???
klingt nach Hebe
@Tscholli: jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich auch an den Rehspruch.
Das Frühstück haben die Frühstückskellner in Rotation verzapft. Falls Du Dich jetzt nachträglich beschweren willst, bitte.
Von Juri hab ich lange nix mehr gehört. Eine zeitlang war er ja im Blue Note mit dem Juri-Reiter-Trio zu erleben. Aber seinen Nachfolger oder Vertreter Wassili hab ich vor ein paar Jahren wieder getroffen. Da war er für die Zeugen Jehovas unterwegs.
@Lucinda: Dabei habe ich ein wesentliches Charakteristikum von Uwe H. sogar weggelassen. :-)
@ Tscholli, ein Spruch ging so ; “ Treten Sie ruhig näher ran, er ist kürzer als Sie denken“
Juri lebt wieder in Russland (zumindesten vor ca. fünf Jahren, als ich das letzte Mal etwas von ihm gehört habe). Selbstversorger mit großem Garten im Großraum Moskau.
Hchhchhch, Hebbe (ich hätte ihn ja mit Doppel-B geschrieben, der Figur wegen (: ) – man müsste bei Deiner wörtlichen Rede jetzt noch die Stimme dazu hören… so ein Mittelding zwischen tiefergelegtem, gepressten (hessischen?) Falsett, Kurzatmigkeit und Meister Röhrich, wenn man das überhaupt in Worte fassen kann.
Den hatte ich bis eben völlig verdrängt.
Oh Mann, der Hebbe…Als Besoffener oft unerträglich, aber grundlegend eine Seele von Mensch. Ich habe mit ihm ziemlich lustige und krasse Sachen erlebt. Möge er in Frieden ruhen.
Als Kind der Nachwende-Zeit war das Lesen der Erinnerungsgeschichten gleichermaßen spannend, interessant und unterhaltsam!