Feige Diebe sind in der Neustadt unterwegs. Tatort: Görlitzer Straße, Höhe La Rue. Tatzeit: immer wieder nachts. Objekt der Begierde: Eine Fahne.
Eine Fahne? Wer stiehlt denn Fahnen? Vielleicht wird das Motiv klarer, wenn man genauer betrachtet, um was für Fahnen es sich handelt. Normalerweise hängen an der kleinen Kneipe zwei Flaggen, die französische und die israelitische. Die erste erklärt sich von selbst, hier herrscht französisches Flair, gibt es leckeren Wein und Speisen des westlichen Nachbarn. Die andere, die weiße-blaue Fahne Israels hängt draußen, weil das Essen hier koscher ist und weil Max, der Koch und Betreiber des Kneipchens sich gern von seiner internationalen Seite zeigt. Wer ihn kennt, wird das verstehen, denn mit Hakennase, Goldkettchen und seinem braunen Teint sieht er so aus, als wäre er auf allen Weltmeeren zu Hause.
Doch inzwischen hat er sein Boot in Dresden festgemacht und sprüht vor Elan, um die Kneipe voranzubringen. Wenn da nicht diese feigen Diebe wären. Geklaut wird nur die israelitische Flagge. Doch Max glaubt nicht, dass irgendwelche Fans die Fahne mitnehmen, weil diese so schön aussieht. Er hat inzwischen Angst, dass beim nächsten Mal nicht nur die Fahne weg ist, sondern auch die Schaufensterscheiben demoliert sind.
Sind Neonazis, Antisemiten in der Neustadt unterwegs? In dem Viertel mit der höchsten Ausländerdichte, dem Multi-Kulti-Viertel Dresdens. Hier zwischen Dönerständen, linken Hausbesetzern und vietnamesischen Gemüseläden, hier sollen solche rechten Krawallbrüder hausen. Konflikte mit der extremen Rechten gab es in der Neustadt schon öfter, besetzte Häuser wurden angegriffen, Szene-Cafés überfallen. Doch diese Vorfälle liegen ziemlich lange zurück, Schwerpunkt waren die frühen Neunziger Jahre. Inzwischen gilt die Neustadt als viel sicherer.
Doch davon kann sich Max nichts kaufen. Auch nicht von der Anzeige bei der Polizei, denn die wird kaum weiter ermitteln, es ist ja nur eine Fahne. Der Kneipier muss jetzt abwägen: Soll er weiterhin Courage, sprich Flagge zeigen, im Sinne eines weltoffenen, toleranten Dresden. Dabei riskieren, dass seine Laden demoliert wird. Oder gibt er klein bei und fügt sich in die Umstände.
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Anmerkung 2004: Vor dem La Rue hängen wieder beide Fahnen.
Anmerkung 2009: In das Lokal ist inzwischen eine Spielbar eingezogen. Mehr Infos
Anmerkung 2011: Max wirbelt immer noch in Dresden, zuletzt wurde er beim Kirchentag gesehen. Mehr Infos