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Wolfgang Hübner: „Ein göttliches Schicksal hat uns bewahrt“

Wolfgang Hübner liegt, den Arm in den Nacken gelegt, auf seinem Bett. Wüsste man nicht, dass ein Rückenleiden die Haltung nötig macht, interpretierte man sie als ungezwungen. Erschöpft ist er nach seinen Erzählungen. Wie soll man ein ganzes langes Leben in eine Stunde pressen? Verästelnd und mäandernd sind die Geschichten, miteinander verknüpft, in Abhängigkeiten stehend. Oft stockt Herr Hübner, setzt neu an, muss Erklärungen vorwegnehmen. Denn wie ließe sich ein Ding ohne den Ursprung des anderen erklären?

„Ein Foto? Jetzt bin ich schockiert.“
„Ein Foto? Jetzt bin ich schockiert.“
Ich bin diplomierter Fachhochschullehrer für Wirtschaft und Verwaltung. […] Ich bin Jahrgang ’25 und hatte noch einen Bruder, der ist ’21 geboren und meine Eltern sind alles Dresdner gewesen. Mein Vater hatte hier die Leitung der Schwanenapotheke auf dem Neustädter Markt. […] Der Vater, der Großvater und der Urgroßvater waren Apotheker. Und mein Bruder, der war auch Apotheker. Der sollte dann unsere Apotheke übernehmen. Aber da kam der Krieg dazwischen. Wir mussten ins Feld. Mein Bruder und ich waren in Russland. Durch Umstände, die märchenhaft klingen, sind wir heimgekommen, alle beide.

Ausgerechnet an dem 31. Oktober 1945 hatten meine Eltern von meinem Bruder eine Nachricht. Der war inzwischen Apotheker in einem Feldlazarett in Großenbrode und ich kam aus russischer Gefangenschaft. Ich will Ihnen gar nicht sagen wie. Hat mich keiner wieder erkannt mit 90 Pfund. […] Mit großer Glückssache, wenn man es neutral ausdrückt. Wir sind alle Christen, gewesen und geblieben. Meine Eltern waren nicht in der Partei. Wir waren immer am Rand der Regierung. […]

Wir hatten eine gute Bildung vom Elternhaus her, auch von der Großmutter und dem Großvater. Väterlicher- und mütterlicherseits alles aus Kreisen, die, man würde heute sagen, gutbürgerlich waren. Und als Apotheker natürlich […] Sie wissen ja, die Apotheker sind nicht verhungert. Bei uns wurde ein strenges, aber sehr christliches […]

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Nicht beten und jeden Sonntag in die Kirche, so nicht, aber lutherisch-evangelisch waren alle. Ich fange damit an, weil ich sagen will: ein göttliches Schicksal hat uns bewahrt. Mein Bruder ist 95 geworden. Er ist voriges Jahr gestorben. Hat eine wunderbare Zeit gehabt. Hat seine Approbation, hat studiert.

"Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll."
„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“
Hier durfte er nicht studieren, weil der Vater Apotheker war. […] Nach drei Jahren durfte ich studieren und habe dann mein Studium in Wirtschaft gemacht, an der Fachhochschule an einem Institut der Humboldtuniversität. Mein Bruder hat in Jena an der freien Universität studiert und hat dann eingeheiratet in eine Apotheke. (lacht) Der hat drei Kinder gehabt, drei Mädels – die sind alle Apotheker geworden! […] Mein Bruder hat ein schönes Leben gehabt. Besser noch als ich, weil er auf der anderen Seite gewohnt hat. Und ich, der ich hier immer an der Grenze gekämpft habe […]

Die haben mich nicht losgelassen. War ja Lehrer. Wahrscheinlich war meine Arbeit so, dass sie gesagt haben: den Hübner, den brauchen wir noch. War immer an der Grenze der Möglichkeiten. Ich war auch kein „DDR-Bürger“. Also, ich war DDR-Bürger, aber für mich galt die DDR nicht so. […] Viele haben sich durch die DDR ein besseres Leben erhofft. […]

Mein Schwager war in ziemlich hoher Position bei der NDPD in Berlin und insofern habe ich reingerochen in viele Dinge, die die anderen gar nicht gewusst haben. Ich kannte die Probleme in Wandlitz usw. […] Ich war in Klassen mit Berufsausbildung und Erwachsenenqualifizierung. Vorher die Zeit, ab Juni 1945, als ich heimkam, habe ich genutzt natürlich. Habe Hotel- und Gaststättenkaufmannprüfung und als Koch die Prüfung […]

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Als Handelsbereichsleiter hatte ich dann zuletzt eine große Lehrverkaufsstelle in Freital usw. Ich hatte eine praktische Leitungsfunktion. Da ist es mir relativ gut gegangen.

„Ich habe alles hier. Ich habe alles schriftlich.“
„Ich habe alles hier. Ich habe alles schriftlich.“
Meine Frau habe ich im Luisenhof kennengelernt. Da war ich auch eine Zeit lang. […] War ich Hauptkassierer. 22, Kellner. Können Sie sich ja vorstellen, was da los war im Luisenhof. Meine Frau war Delikatessenfachverkäuferin, früher im Frieden, im Südviertel. Ihre Eltern wohnten in Niesky, das waren auch Antinazis, kamen aus der Landwirtschaft. […]

Meine Frau war sehr vielseitig auf ihrem Gebiet und ging dann ins sowjetische Lazarett und hat dann dort die Krankenpflege einer Frau eines hohen Offiziers übernommen und hatte dann natürlich auch Vorteile. Mit dem Auto wurde die in ihre Wohnung gefahren. […] Die sollte eigentlich Kohlenschippen. Und da hat meine Frau sich hingestellt – damals war es noch nicht meine Frau – und hat gesagt: ‚Ich mach das nicht!‘ (lacht) Hat die gesagt! ‚Ich mach das nicht!‘ Die Gefreiten dachten nun, die können mit allen machen, was sie wollen. Da kam sie dann vor einen hohen Offizier und sagte: ‚Sehen Sie, das ist mein einziges Kleid. Ich kann keine Kohlen schippen. Sie können mir sonst alles geben.‘ Und da kam sie ins Lazarett in die Verwaltung. […]

Über den Handel kam sie dann in den Luisenhof. […] Dann durften wir nicht mehr zusammen arbeiten (lacht). In einem Betrieb war das verboten. […] Sie ging dann ins Residenzbufett am Neustädter Markt. Dann waren wir immer zusammen und es hat sich ergeben, dass wir schnell geheiratet haben. Dann kam unser Junge. Leider nur der eine, weil meine Frau schwer krank wurde. Wir waren fünfzig Jahre zusammen, aber haben den fünfzigsten nicht mehr verlebt. […] Wenn man die Zeit der Freundschaft und Verlobtsein mitzählt, waren es fünfzig. […]

"Nun habe ich Glück. Die Handwerker sind wieder weg."
„Nun habe ich Glück. Die Handwerker sind wieder weg.“
Für mich war die DDR nur eine russische Kolonie wie alle anderen Länder. Und deswegen habe ich auch immer kämpfen müssen um meine Stellung und die haben mich gut bewacht! […] Ich habe gesagt: ich unterrichte auch Staatsbürgerkunde, wenn es sein muss. Aber ich sage dazu: ich bin Christ und für mich gilt nicht das Gesetz: das Sein bestimmt das Bewusstsein. Das habe ich offen gesagt und bin drin geblieben. Mich haben sie nicht weg gelassen. […] Mit dem Bruder habe ich wenig Kontakt gehabt. Der hat mir gefehlt. Der Bruder. […]

Ich hatte großes Glück, ich war Soldat an der Grenze des Zulässigen. ’45 bin ich gefangen genommen worden und hatte da schon Kontakte zu Partisanen. Wenn die mich geschnappt hätten, wäre ich heute nicht hier. Ich habe ja alles unternommen, was gegen den Krieg war. […] Ich war in der Kesselschlacht bei Wizebsk. Ich habe so einen Vater im Himmel, so einen Schutzengel gehabt.

Was ich alles gehabt habe! Typhus, Ruhr, Malaria. So bin ich entlassen worden. Als Halbtoter. Im offenen Kohlenzug nach Frankfurt. Am 31. Oktober nach Hause gekommen. Jetzt strengt es mich tüchtig an. Sehen Sie, jetzt wissen Sie nur ein bisschen was. […]


Memento

Die Neustadt ist Kult, Szene und vor allem eines: jung. Doch im Viertel leben auch Menschen mit Geschichten aus einer Zeit, da in Dresden-Neustadt an Szene noch nicht zu denken war. Mit freundlicher Unterstützung der Seniorenresidenz Kästner-Passage stellen wir in der Serie „Memento“ immer sonnabends Persönlichkeiten und ihre Viertelgeschichten vor.

14 Kommentare

  1. Kesselschlacht bei Witebsk
    Verlauf der Schlacht bei Witebsk vom 22. Juni 1944, 04:00 bis zum 26. Juni 1944, 22:00

    Nach dem Ende des vorbereitenden Artilleriebeschusses griff aus Richtung Nordwesten die 1. Baltische Front unter Armeegeneral Baghramjan mit der sowjetischen 6. Garde-Armee und der 43. Armee die deutsche Front bei Witebsk an. In Koordination dazu attackierte die 3. Weißrussische Front unter Generalleutnant Tschernjachowski mit der sowjetischen 39. Armee, 5. Armee und der 11. Garde-Armee die deutschen Stellungen bei der Stadt Witebsk aus südöstlicher Richtung.

    Die Angriffe wurden zuerst von Infanterieeinheiten begonnen, um Durchbrüche in der deutschen Frontlinie zu schaffen. Zunächst stürmten sowjetische Schützen zu Fuß die erste und zweite deutsche Verteidigungslinie. Auf Panzern aufgesessene Soldaten in Gruppen zu jeweils 15 Soldaten führten den Vorstoß auf den dritten und letzten deutschen Verteidigungsgraben. Durch die entstandenen Lücken in der deutschen Frontlinie konnten Panzerverbände tief in das deutsch besetzte Hinterland vorstoßen. Während des Angriffs auf Witebsk wurden zwei mit Panzern des Typs IS-2 ausgerüstete Regimenter gegen die deutschen Truppen eingesetzt…

    Deutscher Einsatz:

    850.000 Soldaten
    3.236 Geschütze, Mörser und Raketenwerfer
    570 Panzer und StuG
    602 Flugzeuge

    Russischer Einsatz:
    1.400.000 Soldaten
    31.000 Geschütze, Mörser und Raketenwerfer
    5.200 Panzer und StuG
    5.300 Flugzeuge

    https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Bagration#Kesselschlacht_bei_Witebsk

  2. Hallo Ole,

    bitte erklär mir, wo der Kontext zu dem Artikel ist. Wahrscheinlich habe ich ihn übersehen.

    Ansonsten ganz klar ein Lob an Philine. Solche Sprachdokumente kommen (eigentlich) immer durch ein gutes Interview und wahrscheinlich enormes Einfühlungsvermögen zustande.

    Herrn Hübner würde ich gerne kennen lernen und danke für seine Worte. Ich denke, dass er viel mehr als „nur“ Erinnerungen zu bieten hat. Ein wacher Geist, der auch noch im Alter aktiv zu sein scheint.

    Liebe Grüße an alle vom Ticker und Herrn Hübner!

  3. Auch von mir wieder herzlichen Dank.
    Musste den Artikel echt zweimal lesen. Was für ein bewegtes Leben.
    Alles Gute dem Herrn Hübner.

  4. Ganz sicher richtig und wichtig diese Reihe. Sitz man z.T. da wie’n kleiner Junge, wenn „die Alten“ in’s Reden kommen. Manchmal würd‘ man aber schon auch gern mal etwas intensiver diskutieren, in Frage stellen, …
    Grad was die Zeit des Faschismus angeht würd‘ man schon auch mal kritischer nachfragen: „Ich hatte großes Glück, ich war Soldat an der Grenze des Zulässigen. ’45 bin ich gefangen genommen worden und hatte da schon Kontakte zu Partisanen. wenn die mich gekriegt hätten…“ Wenn wer wen gekriegt hätte, die Partisanen, die Deutschen?
    „Hier durfte er nicht studieren, weil der Vater Apotheker war. […] Nach drei Jahren durfte ich studieren und habe dann mein Studium in Wirtschaft gemacht, an der Fachhochschule an einem Institut der Humboldtuniversität. Mein Bruder hat in Jena an der freien Universität studiert und hat dann eingeheiratet in eine Apotheke.“ Wie jetzt? Apothekersöhne durften nicht studieren oder doch?
    Warum haben Apotheker nicht gehungert? Wie lebt man in einem Land, dass man doch so hundertprozentig ablehnt?

    UNd weil’s ja um Geschichte geht:

    C днём победы!

    https://www.youtube.com/watch?v=uDGPaJQAf1I

  5. Da kann ich Seldon nur zustimmen! Ich kann mich leider nur noch dunkel an die Geschichten meines Großvaters erinnern und versuche seine Geschichte Anhand verschiedener Dokumente (wie seinem Kriegsfotoalbum u.a.) nachzuforschen. Das hier erinnert mich etwas an diese Gespräche, auch weil ich damals noch zu jung war, um die richtigen Fragen zu stellen.

    So wären neben den bereits genannten Punkten zum nachhaken von meiner Seite noch folgende hinzuzufügen:

    „Ihre Eltern wohnten in Niesky, das waren auch Antinazis…“ & „Mein Schwager war in ziemlich hoher Position bei der NDPD in Berlin und insofern habe ich reingerochen in viele Dinge, die die anderen gar nicht gewusst haben.“
    –> Der Sohn dieser „Antinazis“ setzt sich in Berlin für die Eingliederung der einstigen Berufsbeamten und ein Ende der Diskriminierung der kleinen NSDAP-Mitglieder und der Offiziere der Wehrmacht ein? Dies allein wirft schon Fragen auf…

    und

    „ich war Soldat an der Grenze des Zulässigen. […] Ich habe ja alles unternommen, was gegen den Krieg war.“
    –> Wie meint er „an der Grenze des Zulässigen“? War er in irgendeiner Form und Weise, passiv oder aktiv, an Gräueltaten beteiligt und wie würde es sich daraufhin mit der darauffolgenden Aussage verhalten? Oder meint er es in dem Sinne, dass er widerstandsformen praktizierte, soweit es ihm möglich war (Befehle wo möglich einfach nicht ausführen, daneben schiessen, etc.)? Und auch der bereits von Seldon benannte und im selben Zusammenhang erwähnte „Kontakt zu Partisanen“ lässt in dieser Aussage ziemlich viel Interpretationsspielraum…

    Eine einfache und nette Nachfrage, wie er das Gesagte gemeint habe, zusammen mit einer kurzen Rekapitulation, wie das Gesagte verstanden wurde, trägt oft schon viel zur Vermeidung von Unklarheiten und möglichen Fehlinterpretationen oder Missverständnissen bei und zeigt dem Gegenüber auch das Interesse an seiner Person. Nur so als kleiner Tip für die Kommunikation im Allgemeinen…

  6. „Über den Handel kam sie dann in den Luisenhof. […] Dann durften wir nicht mehr zusammen arbeiten (lacht). In einem Betrieb war das verboten.“

    Ich dachte, sowas gibt’s nur bei Walmart. Seltsam, wie vermeintlich systemkonstituierende Praktiken systemübergreifend wirken.

    Ansonsten: Danke für den Beitrag!

  7. Lieber Seldon, wenn Du Dich mal mit den Überlebenden des letzten WK unterhalten würdest, wüsstest Du zum Beispiel, dass in der Mehrzahl der Fälle die Partisanen (egal ob italienische, französische Resistance, Tito-Partisanen oder jene in den besetzten Sowjetrepubliken) mit gefangenen deutschen Soldaten nicht viel Federlesen veranstaltet haben. Warum und wieso und dass weder die deutschen noch die anderen regulären Streitkräfte einen Deut besser waren ist ein ganz anders Thema. Fakt ist übrigens auch, dass selbst deutsche Kommunisten kaum zur Sowjetarmee oder irgendwelchen Partisanen übergelaufen sind, selbst wenn die Situation dies ermöglichte. Das Risiko, kurzerhand „abgeknipst“ zu werden, war nämlich sehr groß. Und nein, nicht alle Kommunisten und Sozis saßen im KZ, kannst ja mal nachforschen, woraus die ganzen Strafbataillone bestanden.
    Jeder Krieg ist unmenschlich und das ganze Gelaber von gerechten Kriegen usw. ist ziemlich abgehoben und akademisch. Die Anzahl von Kriegsverbrechen auf beiden Seiten liegt im vergleichbaren Rahmen, etwas, was inzwischen zumindest die US-Amerikaner auch thematisieren (in „Band of Brothers“ z. B. gibt es ein, zwei entsprechende Szenen).
    (Die organisierte Auslöschung von Volksgruppen aus rassischen Gründen nehme ich hier explizit aus.)

    Studien- und Abiturzulassungen in der DDR waren übrigens ein ganz eigenes Thema, das durfte ich in den 80ern noch original selbst erleben. Wenn an einer Hochschule die Quote der studierenden „Nicht-Arbeiterkinder“ ausgeschöpft war, konnte es an einer anderen Uni eben anders sein… Die Bürokratie hat überall so ihre Haken und Fallstricke :-)

    Also vielleicht die Welt nicht ganz so schwarz-weiß sehen, die Realität besteht aus hunderten Grautönen.

Kommentare sind geschlossen.