Winfried Jäger ist gebürtiger Talstraßler. In seiner Jugend in den 1960er Jahren gehörte er der „Heiderbande“ an. Er war „kein Feiner“, wie er grinsend gesteht. Ein Strolch, Rabauke, Flegel, Lümmel oder was immer ihm die Dampfschiffer hinterher gerufen haben mögen. Aber nicht ohne einen goldenen Robin-Hood-Kern im Herzen. 1989 ging er „in den Westen“ und baute Einfamilienhäuser. Später folgte er seiner Frau zurück nach Dresden. Er hat fünf Kinder und zwölf Enkel, um drei ist Raucherpause und das Radio spielt laut Musik.
Ich bin gebürtiger Neustädter. Ich bin auf der Talstraße geboren und aufgewachsen. Meine Mutter war dann mit uns alleine, mit vier Kindern, alleine aufgezogen. Hat sie alles geschafft. Dann sind wir runter auf die Martin-Luther-Straße in die Eins gezogen. War sehr schön gewesen, mit großem Garten. Wir waren nicht weit von der Prießnitz entfernt, die in die Elbe mündet.
Wir haben dort Schwimmen beigebracht gekriegt, mit vier bis fünf Jahren schon. Und dann mit sieben, acht Jahren über die Elbe geschwommen. An die Schiffe, an die Schaufelradkästen, hinten an die Ruder gesetzt und haben uns dann hochfahren lassen bis zum Blauen Wunder und wenn dann einer entgegen kam, sind wir wieder ins Wasser rein und haben uns wieder runter paddeln lassen mit dem Schiff.[…]
Wir waren eine richtige Bande. Wir waren die Heiderbande. Die, die an der Elbe waren. Und dann gab’s die Alaunplatzbande. Gab’s damals. Wir haben uns damals immer bekriegt. Messers Schneide. Die Neustadt war damals wie ein kleines Chicago. (lacht) Wir sind auch von den Brücken gesprungen. Hat einer auf der anderen Seite aufgepasst, dass kein Dampfer kam oder Wasserschutzpolizei.[…] Zwei Meter war das tief. Es gab auch Sommer, wo man drüber laufen konnte, das stimmt schon. Aber wenn die normalen Pegel hatte, hat man keinen Grund gekriegt.[…]
Ich bin mit Zwölf nach Johannstadt gegangen. An der Fähre bin ich dann rein gesprungen und in der Neustadt an der Prießnitz wieder raus gekommen. Du treibst ja ein bisschen. Dann bin ich nach Freital gezogen. Dort war das nicht mehr möglich. Dann bin ich selbst Vater geworden, da war das nicht mehr drin. Das hat sich alles aufgelöst, verflogen.[…]
Die Banden hatten so 18, 19, 20 Mann.[…] Der Bandenchef hat dann entschieden wer reinkam und wer nicht. Wir [er und der Bandenchef des Alaunplatzes] waren uns nicht ganz grün gewesen. Ich war dann in der Heiderbande. Wenn es Krieg gab, kamen die runter oder wir gingen hoch. Da gab es Wucht. Richtig öffentlich auf der Straße. Da wurde der Unterkiefer schon mal zwei Zentimeter nach hinten gesetzt.[…] Das waren keine Kinderstreiche. Da ging es hart auf hart.[…]
Da hattest du die kleinen Eisdielen an jeder Schule gehabt. Bei uns gab es ja noch die kleinen Lädchen, wo man Bruchschokolade holen konnte. Oder beim Bäcker die Rosinenbrote für 60 Pfennig, heute bezahlst du das Vierfache, Fünffache. Kugel Eis 10 Pfenn’ge[…]
Ich war ja erst alleine im Zimmer, die ganzen Monate. Jetzt habe ich einen Zugang gekriegt. Kenne ich auch schon lange. Drei Jahre. Wenn einer reinkommt, dann er bloß. Er hat nur noch ein Bein. Kann ich dann Hilfestellung geben und bissel dies und das. Das macht man unter Freunden. Da ist er besser aufgehoben.[…] Vorher hatt‘ ich meine Ruhe (lacht) Wir kommen schon zurecht.[…]
Hier [in der Neustadt] biste geboren. Das hätte man mal nicht gedacht. Und hier kommste wieder zurück. Geplant war das nicht. Als wär‘ das ein Omen. Hier geboren, hier gestorben. [lacht herzlich]. Ich konnte mich gut erinnern. Gut, die haben vieles zugebaut. Hier vorne war eine Haltestelle drin und der Haselnussbauer.[…] Zuhause im Haus habe ich vielen geholfen als Kind schon. Bin ich dann runter in den Keller. Sind viele erfroren im Haus, gab ja noch nichts. Mit neun, zehn Jahren habe ich Holz gehackt, Kohlen hoch geschleift und Feuer gemacht, damit die nicht erfrieren. Viele konnten ja nicht mehr laufen. Konnten die Treppen nicht runter, war ja alles nass und hucklig und bucklig. Die Ratten und die Mäuse rannten rum. Einkäufe erledigt. Geld gekriegt. Eis, Süßigkeiten. Ich habe immer geteilt, wie meine Geschwister auch.[…]
Ich fahr‘ noch manchmal an die Prießnitz, hier, mit der Kutsche [weist auf seinen Rollstuhl]. Seh‘ die Dampfer, die Schaufelradkästen, seh‘ ich hinten die Ruder raus gucken und denk‘: da hast du drauf gesessen. Oder oben auf dem Dach. Und dann ins Wasser gesprungen von oben.[…] Bei den Tschechen konntest du rein, konntest dich hochziehen.[…]
Die Tschechen haben Erdnüsse fertig gemacht, in einen Zellophanbeutel rein, wasserdicht gemacht, in die Hosentasche gesteckt, wieder rein ins Wasser. Und die Berliner, wenn wir uns festgehalten haben hinten, die haben gleich mit dem Luftgewehr geschossen oder mit den Kohlen. […] Meinen Kindern habe ich beizeiten schwimmen beigebracht, mit vier, fünf Jahren. Den kleinen Würschteln.[…] Ich wüsst‘ jetzt nicht weiter, was ich erzählen soll. Das fällt einem immer hinterher ein.[…]
Memento
Die Neustadt ist Kult, Szene und vor allem eines: jung. Doch im Viertel leben auch Menschen mit Geschichten aus einer Zeit, da in Dresden-Neustadt an Szene noch nicht zu denken war. Mit freundlicher Unterstützung der Seniorenresidenz Kästner-Passage stellen wir in der Serie „Memento“ immer sonnabends Persönlichkeiten und ihre Viertelgeschichten vor. Haben Sie auch eine spannende Viertel-Geschichte zu erzählen?
Nehmen Sie mit uns Kontakt auf.
Mensch, Winfried, da müsste man Ihnen noch heute den Arsch versohlen.
Ich meine die Schwimmerei mit Festhalten an diversen Kähnen. Das war doch hundsgefährlich. Ansonsten musste ich bei Ihrem Bericht schmunzeln.
@klahta: was für ein respekloser Kommentar. Ich hab den Bericht mit als den besten von dieser wunderbaren Serie gelesen. Bei zu meiner Zeit war es nur Hof gegen Hof. Und die Elbe war giftig. Mein Vater hat das mit den Schiffen auch erzählt aus seiner Jugend.War bestimmt lustig.
@Schonimmerhier:
Dass mein Kommentar so rübergekommen ist, tut mir wirklich leid. Ich wollte alles sein, nur nicht respektlos. Das mit dem Arsch versohlen habe ich doch mit einem Augenzwinkern gemeint, als Mutter und Großmutter, weil seine Aktivitäten aus meiner Sicht doch ziemlich gefährlich waren. Wenn ich Herrn Jäger zufällig treffen sollte, würde ich ihn gern zu einem Bier in eine Gaststätte seiner Wahl einladen.
sieh da sieh da–so klein ist die Welt -ein alter Rivale aus Jugendzeiten von der Heiderbande-man was hatten wir Spuntus vor denen-schöne Zeit wars trotzdem-das Lutherviertel in Lausbubenhand :-)
Charlie909 kann bestimmt auch so einiges erzählen.. Tu uns doch bitte den Gefallen (;
Mensch, das ist wieder ’n guter Beitrag. (Ich frag mich bloß immer, warum.)
Was liebe ich diese Geschichten. Die lustigen wie die berührenden…
spannend, das mit den banden. das hat mir auch ein sehr sehr alter mann erzählt, den ich mal interviewt habe. er hat in den 20er und 30er jahren als kind in der neustadt gelebt, und da gab es auch nach straßen sortierte banden. sow ie er das erzählt hat, waren das kinder, die sich tatkräftig auf ihre laufbahn als kleinkriminielle vorbereitet haben. keine spielereien, brutaler ernst.
Liebe alice d.,
ich im gleichen Viertel zu gleicher Zeit groß geworden und ich kann Ihnen noch viele Personen nennen welche einer der Banden angehörten – der Talstraßenbande, Lutherbande, Louisenbande, Alaunbande, der gefürchteten Hechtbande, der Pfundschen Bande – Personen, welche alle seriöse Berufe erlernt und ausgeübt haben. Auf eine Laufbahn als Kleinkriminelle, wie Sie sich das so vorstellen, hat sich da niemand vorbereitet.
Das Leben von uns Kindern spielte sich in der Nachkriegszeit vorwiegend auf den Straßen oder an der Prießnitz und der Elbe ab.
Sind Sie mal in der Prießnitz von der Heide aus durch die Tunnel bis zur Elbe gelaufen, Barfuß? Haben Sie mal Obst in den anliegenden Gärten geklaut“. Wir fanden weggeworfene Pistolen und Säbel im Wasser, Patronen, die so genannten Pfeiffer, Treibladungen der Panzerfäuste.
Das war unsere abenteuerliche Jugendzeit. Ich möchte sie nicht missen. Wir waren an der Luft, im Freien, lernten uns zu behaupten.
Es gab kein Fernsehen, es gab kein Internet an dem sich heute mehr oder weniger die gähnende Langeweile vertrieben wird.
Wir hatten keine Langeweile, wir schlugen und vertrugen uns.
Einen herzlichen Groß an Winfried Jäger!