Erhard Sünder wurde am 8. Juli 1956 in Guteborn zwischen Ruhland und Senftenberg geboren. 1958 zog die Familie nach Dresden, auf die Kamenzer Straße. Die Gassen der Neustadt wurden sein Abenteuerspielplatz. Später lernte er Schriftsetzer und besuchte Abendkurse der Kunsthochschule. In den 1980er Jahren siedelte er nach Bayern über. Heute ist Sünder neben anderem auch Maler. Über seine Kindheit und Jugend hat er ein Buch geschrieben. Mit freundlicher Genehmigung veröffentlichen wir hier einige Auszüge aus Kapitel 2 „Die ersten Lebensjahre“.
Die Erinnerungen an meine Kindheit reichen zurück bis ins Jahr 1959, als ich dreijährig war. Es sind nur Fetzen, die an mir vorüberziehen, dennoch sind es Bilder die sich im Inneren tief eingeprägt haben.[…] Die Zeit meiner lückenlosen Erinnerung begann Anfang der sechziger Jahre.[…] Für mich war es eine schöne, unbedarfte Zeit.[…]
Im ersten Hinterhof unseres Wohnhauses war die Werkstatt vom Glaser Mehner, dem ich oft bei der Arbeit zuschaute. Herr Mehner war schon ein alter Mann, der stets nett und freundlich war. Der alte Mehner hat auch Fenster gebaut. Ich liebte den Geruch von Holz und Fensterkitt und aus den Säge- und Hobelspäneabfällen durfte ich mir oftmals „Klötzel“ aussuchen, mit denen ich dann Straßen, Autobahnen, Schiffe und Hafenanlagen baute. Mit meinen wenigen Spielzeugautos und Holzmännlein konnte ich mich stundenlang beschäftigen. Ein Kinderzimmer gab es nicht. Meine Bauwerke errichtete ich in der „Stube“ (so wurde unser Wohnzimmer genannt).
In dieser Stube spielte sich alles ab. Dort wurde gegessen, gelesen, geschrieben, gespielt und gewaschen. Nicht die Wäsche, sondern der Körper. Dazu wurde in der Küche auf dem Ofen Wasser gekocht und in einer großen Zinkwaschschüssel, die man im Wohnzimmer auf einen Hocker stellte, wusch man sich. Auf den Tisch, wo auch die Mahlzeiten eingenommen wurden, stellte mein Vater morgens einen Holzkasten, den man aufklappen konnte und in dem ein Spiegel im Deckel war. In diesem Kasten waren die Utensilien, die er für seine morgendliche Rasur benötigte. Ich spielte an dem gleichen Tisch, nicht etwa am Boden. Manchmal, wenn ich gerade meine „Bauwerke“ fertiggestellt hatte, hieß es plötzlich: „Disch abräum’n, s’wird gegess’n“.[…]
Sommer in Lederhosen
Irgendwann in diesem Jahr kam der Sommer. Der für uns damals schon im April begann. Es war die „Lederhosenzeit“. Sobald die Außentemperaturen über zehn Grad Celsius lagen, wurden mir morgens kurze Hosen verpasst – die geliebten Lederhosen. Und wenn es noch etwas zu kalt war an den Beinen, bekam ich ein getragenes „Leibchen“ mit Strumpfhaltern meiner Schwestern, dazu gerippte braune Baumwollstrümpfe, die an die Strumpfhalter angeknöpft wurden und die Kälte war kaum noch spürbar.[…]
Heute denke ich, alle Jungs trugen Lederhosen, um ihre Mütter zu entlasten. In dieser Zeit gab es noch keine Waschmaschinen. Die Mütter wuschen die Wäsche entweder daheim in der Küche in einer großen Holz- oder Zinkwanne, oder im Waschhaus, dass in jedem Haus vorhanden war. Die Chance, dass die Wäsche im Waschhaus gewaschen werden konnte, war sehr gering – bei 30 Familien mit insgesamt 45 Kindern. Also wurde in der Küche der Kohleofen eingeheizt. Auf dem Ofen wurde die Wäsche in einem großen, hohen Topf gekocht, anschließend in die Wanne gegeben und mehrmals gespült.[…] Die Lederhose wurde nur ausgeklopft, feucht abgerieben und aufgerauht.[…]
Der Eisenwerner
Gegenüber unserer Wohnung mündete die Schönfelder in die Kamenzer Straße. An der linken Ecke befand sich ein Eisenwarenladen – Eisenwaren Erich Werner, ein Geschäft in dem es Schrauben, Nägel, Haken, Ösen und Werkzeuge gab – von uns genannt: „der Eisenwerner“. Der Eisenwerner war ein sehr großer Mann, sicher zwei Meter. Wenn irgendjemand meiner Freunde merkte, der Eisenwerner holt sein Motorrad aus dem Hof (eine grüne Maschine, Fichtel & Sachs), dann versammelten wir uns alle vor unserer Haustür, um dem Schauspiel beizuwohnen. Er sah immer lustig aus, wenn er sein Motorrad startete und weg fuhr. Herr Werner trug dann eine dunkelgrüne Motorrad-Lederkappe und eine große Motorradbrille. Die Lederkappe trug er offen und die Ohrenklappen standen fast waagerecht von seinen Ohren weg, die ebenfalls sehr groß waren und vom Kopf ab standen. Wir mussten schon über sein Aussehen lachen, noch lustiger wurde es, wenn er seine Maschine startete. Irgendwie trat er mit einem Bein auf das Startpedal und gleichzeitig schlug er das andere Bein nach hinten aus in eine enorme Höhe. Den Startvorgang wiederholte er vier- bis fünfmal, ehe das Motorrad ansprang.[…]
Kaffeerösterei, Krämerläden, ein Hotel
Auf der rechten Ecke Kamenzer/Schönfelder Straße befanden sich ebenfalls Geschäftsräume, in denen sich damals eine Werbeabteilung befand. Dort wurden Werbetafeln, Plakate und Schrifttafeln gemacht. In dieses Geschäft ging unsere Mutter täglich ein paar Stunden zum Putzen. Ein Haus weiter, in der Schönfelder Straße war der Krämerladen von Strobels. Ein Geschäft mit Kaffeerösterei. Bei Strobels gab es fast alles, Süßigkeiten, Kaffee, Brot, Getränke, Gewürze und viele andere Dinge. Wenn Kaffee geröstet wurde, dann lag ein ganz besonderer Duft über unserem Viertel, der den täglichen Gestank völlig überdeckte.[…]
Auf unserer Straße waren zur damaligen Zeit viele Geschäfte und tagsüber herrschte immer emsiges Treiben. Wenn man von der Louisenstraße in die Kamenzer einbog, befand sich an der einen Ecke das Hotel Stadt Rendsburg, auf der gegenüberliegenden Seite war der Friseur Bochmann, der meinem Vater und mir die Haare schnitt. Daneben waren Ausstellungsräume des Möbelhauses Ehrlich. Ein paar Meter weiter war ein großes Fischgeschäft, wo damals im Fenster noch ein Aquarium stand, in dem immer Karpfen schwammen. Gleich daneben war die „Hruschka’n“, auch ein Krämerladen, bei der gab es rote Limonade, die ich sehr gern mochte.
Gegenüber war die Klavierfabrik Thierbach, die bauten und reparierten Klaviere. Vor der Fabrik standen häufig „Russenautos“, die brachten und holten Klaviere. Die Autos hat man sofort am Geruch erkannt. Das Benzin, mit dem die Russen fuhren, hatte einen sehr eigenartigen Geruch. Meistens waren es Gruppen von Soldaten, die mit den Autos mitkamen und deren Uniformen rochen ebenfalls fremd, wie Pflaster, nur noch stärker. Zur Fabrik gehörte ein Schauraum, wo einige Pianos und Flügel standen. In diesem Raum saß manchmal ein kleiner untersetzter, blinder Mann. Er wohnte bei uns auf der Strasse, einige Häuser von unserem entfernt. Der Mann hatte immer einen Hut auf, er trug eine dunkle Brille mit großen Gläsern und er hatte stets eine Zigarre im Mund. Mit seinem weißen Stock tastete er sich bei uns die Strasse entlang, bis zum Thierbach, bei dem er dann im Schauraum die Klaviere stimmte.
Zigaretten holen
Schräg gegenüber von uns, im Haus vom „Eisenwerner“ und genau gegenüber von unserem Bäcker Johne, war der Milchladen Erxleben. Herr und Frau Erxleben waren nette Leute und lieb zu uns Kindern. Herr Erxleben war ein „feiner“ Mann, immer gut gekleidet und stets im weißen Mantel mit Hemd und Krawatte. Manchmal schickte er mich zum Zigaretten holen, Marke „Sonne“ in ein Tabakgeschäft auf der Louisenstraße. Als Belohnung durfte ich mir in seinem Geschäft etwas aussuchen. Neben den Molkereiprodukten gab es auch verschiedene Süßigkeiten. Der Erxleben hatte Karamelstangen, die ich gern mochte. Mit solcher habe ich mir meine Dienste „bezahlen“ lassen.
Neben dem Milchladen hatten wir den Gemüseladen Pfeiffer. Vor dem Geschäft war auf Holzböcken eine große Tafel, die nach vorn schräg abfiel und auf der sämtliches angebotenes Obst und Gemüse angepriesen wurde. Damit man die Holzböcke nicht sah, war über die Tafel bis fast zum Boden eine Plane gelegt. Unter diese Plane sind wir manchmal geschlüpft und wenn wir uns unbeobachtet fühlten, haben wir unter der Plane hervor in die Obststiegen gegriffen und das Obst „probiert“ – Erdbeeren, Kirschen und Pflaumen, was gerade Saison hatte. Im gleichen Haus von Pfeiffers war auch ein Lampengeschäft, ich glaube, mich zu erinnern, dass über dem Eingang eine Tafel hing auf der geschrieben stand: „Vogel & Scheuch“ und mit kleinen Buchstaben darunter – „früher an der Frauenkirche“. Deshalb wurde die Inhaberin des Geschäftes von uns „Vogelscheuche“ genannt.
Zienerts Gaststätte
Nach Pfeiffers wurde unsere Straße etwas offener. Es kamen grössere Grundstücke, wo keine oder nur noch Teile von Häusern standen. Da waren im Krieg Bomben drauf gefallen. Man hatte dort Garagen hingebaut und in einem Seitengebäude waren noch zwei Pferdefuhrgeschäfte. Fuhrgeschäft „Anders“ und Fuhrgeschäft „Marschler“. Daneben befand sich das Baugeschäft „Schmieder“. Ein sehr feister Mann mit wenig Haaren und einem Pfannkuchengesicht, das stets hochrot war. Der Schmieder fuhr in der damaligen Zeit schon immer große Autos. Die Baustoffe wurden auf dem Grund, wo die Fuhrgeschäfte waren, gelagert. Sand Kies, Steine – für uns Buben ein ideales Terrain zum spielen. Der Schmieder sah das nicht gern, wenn wir auf den Sand- und Kiesbergen herumliefen und hat uns oft davongejagt.
Im Haus Nummer 29 und 31 waren jeweils die Vorderhäuser dem Luftangriff am 13. Februar 1945 zum Opfer gefallen. Dort wo die Vorderhäuser einst standen, gab es nun Grünflächen, die wir auch in Beschlag nahmen. Weiter oben in der Kamenzer Straße war der Gemüseladen „Kästner“ und ein Blumengeschäft. Dann gab es den Sack-Becker. Ein kleiner Laden, von der Strasse führten einige Stufen in das Geschäft. Der Sack-Becker war auch solch ein Krämerladen. Allerdings hatte der noch ein etwas erweitertes Sortiment. Im Verkaufsraum standen immer Säcke, gefüllt mit Nüssen, Erdnüssen (die es Anfang der sechziger Jahre noch gab!), Hundekuchen, Sonnenblumenkerne usw. Ich aß sehr gern Erdnüsse, deshalb kauften wir auch hin und wieder bei eben diesem Sack-Becker ein.[…]
Gegenüber vom Sack-Becker war ein Geschäft in dem es Textilien, Berufskleidung, Socken, Wolle, Garn, Nähzeug usw. zu kaufen gab. Die Inhaber hießen Gebelein. Daneben war der Fleischer Hammer, dann kam eine Kreuzung, die Sebnitzer Strasse. Auch an dieser Straßenkreuzung befand sich an jeder Ecke ein Geschäft. Eine Bäckerei, „Woldemar und Schmidt“ – der Schnapsladen (Woldemar und Schmidt hatten eine Fabrik, wo Spirituosen hergestellt wurden), gegenüber war die Drogerie „Bulander“ und an der vierten Ecke war „Zienerts Gaststätte“, eine Bierkneipe aus der es immer eklig nach Bier und Schnaps und Zigarettenrauch roch.
Der „Laulau“
Nach der Kreuzung in Richtung Bischofsweg waren noch weitere Geschäfte. Der Schreibwarenladen „Schwaer“, Bäckerei „Claudius“, ein weiterer Fleischer, eine Samenhandlung und nochmals ein Milchladen, ein weiterer Friseur und danach, an der Ecke Bischofsweg, die „Papageienschänke“, ein Speiserestaurant. […] Die Kamenzer Strasse geht dann noch zwei- bis dreihundert Meter weiter, schneidet die Nordstraße und mündet in den Prießnitzgrund, ein großes Waldgebiet und ist auf dem letzten Stück nur noch einseitig bebaut. Auf der anderen Seite ist ein riesiger freier Platz mit Grünflächen und Park ähnlichen Anlagen. Vor dem Krieg auch Zeppelinlandeplatz.
Der Platz ist der Alaunplatz und für uns Kinder war es der „Laulau“. Dort sind wir oft herumgestromert. Dort sind wir Roller und Fahrrad gefahren, haben Drachen steigen lassen, waren im Winter rodeln. Dort haben wir Fuß- und Radball gespielt, dort hatte ich meine ersten Treffen mit Mädchen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes waren Kasernen der Russen, wo wir die ersten Zigaretten geraucht haben.[…]
Memento
Die Neustadt ist Kult, Szene und vor allem eines: jung. Doch im Viertel leben auch Menschen mit Geschichten aus einer Zeit, da in Dresden-Neustadt an Szene noch nicht zu denken war. Wir stellen in der Serie „Memento“ immer sonnabends Persönlichkeiten und ihre Viertelgeschichten vor. Die heutige Geschichte ist ein Auszug aus dem Buch „Sehnsucht nach Freiheit: Die Geschichte eines Dresdner Neustadtkindes“, erschienen im Selbstverlag und mit der ISBN: 3734755719 in jedem Buchladen bestellbar, 304 Seiten, gebundene Ausgabe, 20,25 Euro. Erhard Sünder plant, im Herbst nach Dresden zu kommen und aus seinem Buch zu lesen. Wir werden darüber berichten, wenn es soweit ist.
- Haben Sie auch eine spannende Viertel-Geschichte zu erzählen? Nehmen Sie mit uns Kontakt auf.
Vielen Dank an Günter Starke für den tiefen Griff in sein umfangreiches Fotoarchiv.
wenn man die Kamenzer Straße von der Louisenstrasse her kommend in Richtung Alaunplatz lief und links in die Sebnitzer Straße einbog und diese bis zum Ende, in die Alaunstraße mündend, entlang ging, stiess man direkt auf eine Gaststätte, in der es zu meiner Zeit alle Gerichte mit Pferdefleisch gab. Gut und günstig soweit ich noch weiss. Wir nannten das Restaurant die ,,Happeldiele“. Außen an der Fassade stand, so glaube ich mich zu erinnern, ,,Zum Goldenen Hufeisen“.
Kann sich daran jemand erinnern und gibt es davon evtl. noch Fotomaterial?
Beides hier: http://www.neustadt-ticker.de/36110/alltag/kolumne/handtaschen-krieg
Hallo Erhard, habe die Zeilen über Dich und den Buchausschnitt mit großem Interesse gelesen. Du hast sehr detailierte Erinnerungen. Ich glaube ich müsste sehr nachdenken um meine Kindheit in Dresden – Pieschen so haarscharf heranzuholen. Alle Achtung, liest sich gut und macht Lust auf das Buch! Freue mich auf Deine Lesung in Dresden, Annette
auch erwähnt im Intro „Von einem, der herzog“ zu Anton Launers Buch „Anton und der Pistolenmann“
Lieber Erhard,
Danke, dass du die schöne und spannende Zeit unserer Jugend so präzis beschrieben hast. Da gab es so viele feine, ganz einfache und Grund ehrliche Menschen, die man nicht vergisst, das hast du in deinem Buch ganz grossartig bewiesen. Freundschaften, die so selbstlos waren, dass man es heute kaum mehr versteht. Darum wünsche dir, dass dein Buch bei allen, die es kaufen, tiefen Eindruck hinterlässt, so dass man sagen kann, dein Buch zu lesen, war eine Bereicherung.
Auch wenn ich die „mutigste Vaterlandsverräterin“ von uns Geschwistern war und nun schon 44 Jahre die Schweiz meine Heimat ist, erinnere ich mich sehr gern an die Kamenzer Strasse 25.
Ganz liebe Grüsse
Deine Schwester Erika
Wünsche allen viel Spass beim Lesen.
Liebe Erika, Deine Geschichte ist mit Sicherheit genau so interessant und wahrscheinlich um einiges spannender. Was Du mit Deiner damaligen Flucht auf Dich genommen hast, kann heute kein Mensch nachvollziehen. Einmal hast Du uns die Geschichte Deiner Flucht detailliert erzählt, und Du hast geweint und ich habe geweint und das kann nur jemand verstehen, der ein ähnliches Schicksal erlebt hat.
Lieber Erhard,
ich habe eine insensive, gute Erinnerung an meine Kindheit, die sich so dann und wann auch auf der Kamenzer Straße zugetragen hat. Ich habe alles vor Augen und sogar in der Nase und spätestens mit dem Lesen Deines Buches sind daraus wieder Filme geworden. Was das Lesen so schön macht, ist der herrliche, feine Humor, der jede Zeile unterstreicht.
Meine Oma, die Tante Erna, hat immer gesagt: Es war eine elende Zeit, aber schön war es doch!
Ich wünsche Dir noch viele Erinnerungen, die uns Lesern zur Freude werden. Alles Gute, bis bald in Dresden!
Ich kann das Buch nur empfehlen.