Mit seinen klassischen blauen Namensschildern und dem gebügelten Asphalt erweckt der Julie-Salinger-Weg den Anschein von Alteingesessenheit. Dabei ist er ein ganz frischer, erst 2016 getaufter Jungspund. Sein Charme bewegt sich irgendwo zwischen Hoffnung und Nüchternheit, sein Name mahnt zum Gedenken.
Das Wetter ist zu grau, um dermaßen warm zu sein. Die Kieskisten am Wegesrand, die bauschigen Weihnachtsgirlanden, die Schornsteine scheinen auf Schnee zu warten. Doch im Blumenladen duften schon die Frühblüher am Dreikönigstag. Das Wetter ist verwirrt und man selbst auch, unter der kratzenden Mütze. Aber das kann auch am neuen Jahr liegen, in dem man die ersten Schritte macht wie ein zögerlicher Stift die ersten Ansätze auf weitem, weißem Papier.
Die Graffitis wachsen mit moosiger Hartnäckigkeit an den glatten Wänden des Hofquartiers und zeugen von einer Zeit, da dies hier ein freies, fruchtbares Stück Erde war. Der Lustgarten nämlich, vorangetrieben und verteidigt vom kürzlich verstorbenen Mirko Sennewald. Hier tummelte sich zur BRN bis 2014 buntes Feiervolk und die Träume stiegen wie Seifenblasen.
Nun ruhen hier geschickt in alte Backsteinmauern eingepasste Wohn-Kuben. In den unteren Stockwerken warten leer stehende Ladenlokale auf Zuzug, um den Plan von Kiezlebendigkeit zu erfüllen. Vor Sonnenlicht und Lärm schützt die Bewohner der unteren Stockwerke gegenüber der Rewe-Parkhauseinfahrt ein Wall, der es an Höhe mit der Berliner Mauer aufnehmen kann. Auf dem Spielplatz stehen Kinderwagenrudel neben einwattierten Müttern und tollenden Kindern.
Julie Salinger verbindet nicht nur Böhmische und Bautzner miteinander, sondern auch Vergangenheit und Gegenwart. Der Julie-Salinger-Weg erinnert an die Dresdner Parlamentarierin und Frauenrechtlerin. Sie wurde als Bürgerin jüdischer Abstammung im Zuge der Judenverfolgung gemeinsam mit ihrer Schwester Minna Bertha Salinger in das Judenhaus Bautzener Straße 20 eingewiesen und von dort am 28. August 1942 im Alter von 79 Jahren nach Theresienstadt transportiert. Zuvor mussten sie, der gängigen Praxis folgend, ihr gesamtes Vermögen in einen „Heimeinkaufsvertrag für die Gemeinschaftsunterbringung“ in Theresienstadt investieren. Beide wurden im Lager ermordet.
Salinger war zusammen mit ihrem Ehemann Julius 1897/98 aus Ortelsburg in Ostpreußen nach Dresden gekommen. Sie setzte sich sowohl innerhalb der jüdischen Gemeinde als auch mit ihrem Wirken in Politik und Vereinen für Frauenrechte ein. Während des ersten Weltkrieges war sie Mitglied des Zentralausschusses der Kriegsorganisation Dresdner Vereine und Vorsitzende des Sonderausschusses der Gruppe III zur „Steuerung der Arbeitslosigkeit für die durch Krieg außer Arbeit oder sonst in Not geratene Personen und Familien, unter anderem auch durch Errichtung von Volksküchen“ und zwischen 1919 und 1920 als eine der ersten Frauen Fraktionsmitglied der DDP für Dresden und Umgebung.
Julie Salinger hatte wechselnde Adressen in Dresden. Auf der Bayreuther Straße wurde 2012 ein Stolperstein für sie gelegt, 2013 folgte der für ihre Schwester. Käme für jeden Opferschritt in Dresden ein Stolperstein, die Stadt hätte goldene Straßen. Wie tröstlich wäre jetzt ein kühler, dicker Schnee, der die Geräusche dämpft und Böllerreste zudeckt. Das Schlachtfeld nach dem Neujahrskrieg.
Gegenüber des Rewe erhebt sich die Hausnummer 20 und steht cremefarben und unbeteiligt. Hier mussten enteignete, entrechtete jüdische Mitbürger zusammengepfercht hausen, der Willkür eines nationalsozialistischen Staates ausgesetzt und sich mit ihrem letzten Gut selbst einkaufen in für ihre Vernichtung angelegte Todeslager. Wie gut täte jetzt ein reiner, eisiger Schnee, der dem inneren Schaudern eine Antwort entgegensetzt.
Julie-Salinger-Weg
- Die Straße auf dem Stadtplan von dresden.de
Sehr schön geschrieben. Besten Dank!
Ich hätte nie gedacht, dass ich Texte über Straßen mit solch einem Genuss lesen würde!
:o)