„Der ist bestimmt unten“, sagt der Mitbewohner von Dieter Richter und vergewissert sich des Vornamens auf dem Türschild. Ich finde Dieter Richter auf halber Treppe. Er war gerade im Begriff, seinen Stammplatz zu beziehen: Den Vorsprung eines Schaufensters an der Bautzner Straße vor der Tür der Seniorenresidenz. „Meine Sprache ist schlecht“, sagt er bekümmert und erzählt mühsam, aber voller Emotion. In dem mittlerweile auf den Rollator gestützten Mann schlummert ein ehemaliger Artist, der gemeinsam mit seinem Partner Günther die DDR und über ihre Grenzen hinaus das sozialistische Ausland begeisterte.
Ich bin auf der Alaunstraße 15 geboren, am 24. Mai 1943. Ich hab 1945 den Bombenangriff miterlebt, da war ich zwei Jahre alt. Ich habe in der Neustadt alles erlebt. Ob das der 17. Juni war, wo die Polizei drauf gehaun hat auf die Genossen – alles erlebt.
Ich bin nie aus Dresden weggegangen. Niemals. Als 17-Jähriger bin ich abends um zehn mit dem Fahrrad nach Berlin gefahren – ich wollte an die Ostsee hoch – , bin aber in Berlin hängen geblieben – durch Westberlin – die Grenze war ja offen, die Mauer wurde ja erst später gebaut […] Da bin ich kurz in Berlin hängen geblieben, aber immer wieder zurück gekommen. Mein Kumpel – er war begeistert, es war ja was Neues – sagt: Du, ich bleib hier! Ich sage: Mache, was du willst. Ich fahr nach Dresden. Bin ich in den Zug und wieder nach Dresden.
Von Dresden und der Neustadt bin ich nie weggekommen. Ach […] Ich muss raus. Das geht mir hier drinnen auf den Geist. Immer wenn ich draußen bin – ich kenne sehr viele Leute. Da trifft man sich und spricht miteinander. Macht man mal einen Treffpunkt aus … Zum Beispiel morgen gehe ich abends um sechse in die Kneipe. Da treffen wir uns. Ich sage Ihnen – das können Sie mir ruhig glauben – , das glauben viele nicht: Ich trinke keinen Alkohol. Seit ich 30 bin, von diesem Tage an, habe ich keinen Alkohol mehr getrunken. Dort gehe ich abends um sechse hin und morgens um sechse raus.
Ich gehe mit Freunden hin, die ich schon jahrelang kenne. Und die trotz meines Zustandes zu mir halten. Die kommen mich hier besuchen. Ich kann mich da nicht beschweren. Wenn ich dann morgens um sechse hier ankomme, gucken die blöd aus der Wäsche. Ich trinke nur Mineralwasser. Hätte ich früher nicht gekonnt. Ich war früher leidenschaftlicher Biertrinker. Ich kann das. Viele können das nicht.
Meine Kindheit […] Ich war in der Alaunbande. Die ganze Kindheit und Jugendzeit. Es gibt unten an der Prießnitz – ich weiß nicht, ob es die noch gibt – drei Weidenbäume. Wenn man sagte: Wir treffen uns an den Weiden – da wusste jeder Bescheid. Da gab es Senge. Wie heutzutage die Fußballfans […] Die haben ja auch einen Klaps. Die treffen sich vorm Busbahnhof und hauen sich die Jacke voll. Wir waren genauso blöde. Wir haben uns getroffen und los ging’s.
Meine Kindheit […] Ich muss sagen – weil wir vorhin gerade beim 17. Juni waren – das war ein Donnerstag, werd ich nicht vergessen … Ich war in der Schule im Sport der Beste. In allem. Im Laufen, im Rennen, ich war der Schnellste. Da hat ein Sportlehrer zu mir gesagt: Ich nehm dich mit, ich meld dich im Sportverein an. Auf der Weintraubenstraße war in der Schule ein Turnverein. Wir sind da nicht hingekommen, wegen der Revolte. Die Russen sind gekommen und haben herumgeschossen. Nicht mehr als drei Mann durften zusammenstehen, sonst war das eine Gruppe und das war schon gefährlich. Die haben über die Köpfe geschossen, sodass die Leute vor Angst in die Häuser gerannt sind. […]
Ich bin dann zu dem Sportverein hin. Da war ein Turnlehrer, der hat gesagt: Wir machen mal was. Und dann habe ich vom zehnten Lebensjahr an trainiert. Hab bei den sächsischen Meisterschaften mitgemacht. Hab ich geschafft. […] Wir waren BSG. Dann gab es noch den Sportclub. Der war sozusagen Spitze. Und wenn Meisterschaften waren, so Kreis- oder Bezirksmeisterschaften, habe ich immer den ersten Platz belegt. Und der Sportclub, die Leute die eigentlich vorn hätten sein müssen – die waren nur Zweiter, Dritter, Vierter. Und da haben die gesagt: Nee. So geht’s nicht weiter. Da haben die mich angesprochen, ob ich nicht in den Sportclub will. Bin ich eingetreten.
Ich habe die Grundbegriffe gelernt, was man so braucht als Turner. Handstand, Salto … Das ist mir dann später zugute gekommen. In dem Verein hatten wir um die Weihnachtszeit immer ein Beisammensein. Und da hieß es immer: Naja, die Turnerinnen, die machen jedes Jahr irgendwas! Die Turner kommen nicht aus dem Knick! Die machen nichts!
Ich habe zu meinem Freund Günther gesagt: Das lassen wir nicht auf uns sitzen. Wir bauen irgendwas zusammen! Und da haben wir angefangen. Wir haben das Ganze auf die Humoristische gemacht. Aber nicht auf Klamotte! In den Arsch treten oder so – sowas nicht! Schön Handstand, Salto, Kaskade – aber auf sehr komische Art. Der Mann einer Turnerin, der war mit bei dem Betriebsvergnügen und hatte uns gesehen. Der sagte: Ich habe als Berufsartist auf dem gleichen Gebiet gearbeitet wie das, was ihr gerade gemacht habt. Habt ihr Interesse? Ich biete euch eine Ausbildung an. Drei-viermal in der Woche, in der Stadthalle Dresden.
Wir waren begeistert! […] Der hat uns verschiedene Kniffe und Tricks gezeigt. Dann wurde die Sächsische Zeitung auf uns aufmerksam, weil wir bei irgendeinem Ausscheid teilgenommen und abgeräumt hatten. Da haben die uns delegiert nach Frankfurt-Oder. Dort trafen sich die besten Laienkünstler der DDR zu einem Ausscheid. Wir treten dort an – und was gewinnen wir? Die Goldmedaille.
Und der Gewinn der Goldmedaille berechtigte dann automatisch zur Teilnahme an der Artistenschule in Berlin. Fachschule für Artistik – die einzige, die es damals in der DDR gab. Dort haben sie uns den letzten Schliff gegeben, wie man so sagt, und haben uns sofort delegiert zum Berufsausweis. Wir sind dann nach Magdeburg in den Kristallpalast. Dann sind wir von der Konzert- und Gastspieldirektion eingeladen worden zu Tagesgeschäften. Ausland waren wir auch. Ungarn, Polen. In Dresden waren wir im Café Prag […] Dort gab es vierzehn Tage ein Programm, das wechselte dann. Dort waren wir ständig Gast. In der Sächsischen Zeitung stand eine große Überschrift: Dresdner Jungs. Am Tag hatten wir fünf Veranstaltungen. Viel hin- und hergefahren. Von Zwickau nach Nünchritz […]
Wenn sie einen Partner haben – das bleibt nicht aus – irgendwann gibt es Reibereien. Und da habe ich dann gesagt: Schluss, aus. Wenn das nicht funktioniert – das ist wie mit einer Ehe. Bevor Sie sich streiten, lassen Sie es lieber sein. Und da haben wir damals die Sache beendet. Aber friedlich! Wir haben uns nicht gestritten. Wir sind gegangen im Guten. […]
Memento
Die Neustadt ist Kult, Szene und vor allem eines: jung. Doch im Viertel leben auch Menschen mit Geschichten aus einer Zeit, da in Dresden-Neustadt an Szene noch nicht zu denken war. Wir stellen in der Serie „Memento“ immer sonnabends Persönlichkeiten und ihre Viertelgeschichten vor.
- Haben Sie auch eine spannende Viertel-Geschichte zu erzählen? Nehmen Sie mit uns Kontakt auf.
Och, schon zu Ende? Wollte gerade die Füße hochlegen …
es wäre schön, wenns noch eine Fortsetzng der Geschichte gäbe….
Ich hätte auch gern weiter gelesen. Echt schön geschrieben!! Einfach nur WOW
Wunderbar! Ich habe den jungen Herrn immer im Vorbeigehen bemerkt und kenne jetzt einen kleinen Teil seiner Geschichte. Hab mich immer gefragt was er wohl so gemacht hat. Danke.
Wir würden dem Herrn Richter sofort einen Platz auf unserem Balkon anbieten! ;-)