Lothar Kempe sitzt in seinem Rollstuhl und versucht die Gedanken zu haschen. Sie schwirren umher wie Vögel, huschen durchs Dickicht, verstecken und verwandeln sich. Die Orte purzeln durcheinander, die Zeit verschwimmt. Er schaut ratlos aus dem Fenster, beschreibt Bilder, Versatzstücke von Sätzen, Geschichten. „Ich weiß nicht, was ich von mir selber halten soll“, sagt er. Der Stuckateur baute nach dem Krieg Hof- und Kreuzkirche wieder mit auf.
Geboren bin ich in Striesen. Dort sind wir wohnen geblieben bis der Angriff begann. […] Dass wir sehen mussten, dass wir irgendwo Unterschlupf fanden. Das war das geringere Problem. Wir hatten hier in der Neustadt, im Wald, dort hatten wir ja auch Verwandte wohnen. Und da sind wir halbwegs herum gekommen. Mehr oder weniger haben wir Glück gehabt. Bei dem Großangriff. Den haben wir ja alle miterlebt. Ich weiß auch nicht, wie man da noch großartig reden kann drüber […]
Zur Zeit bin ich in einer ganz anderen Verfassung. Ich weiß selber nicht mehr, was mit mir los ist. Ich hab zwar eine ganze Menge Freunde hier, aber, die haben ja mehr oder weniger alle mit solchen Sachen zu kämpfen.
Meine Mutter ist hier gestorben. In Dresden-Trachau. Unsere Tochter ist hier gestorben. Das ist ein ganz blödes Ding. Fragen Sie mich was. Ich kann immer schlecht reden. […]
Wir blieben dann in der Neustadt. Wir hatten hier noch mehr Leute von uns wohnen. Familie. Und da ging das an sich. Ich meine, gut, es war beengt überall. Aber es ging. Als Kind hat man das nicht so mitbekommen. Die Eltern wohnten ja auch in der Neustadt und gingen arbeiten. Manche hatten auch keine Arbeit mehr.
Sagen Sie, ist das meine Behausung? […]
Wir sind von hier aus dann, weil die Wohnungsnot noch größer wurde, ins Gebirge gegangen. Dort hatten wir Oma, Opa, Onkel, Tante. Waren alle im Gebirge und wohnten dort. Dort hatten wir ausgesorgt. Besser wäre es gewesen, wir wären nie wieder dran gerückt. Aber wir haben es eben gemacht. Ich hatte einen Onkel in Striesen, der ist auch kaputt gegangen. Er war aus dem Krieg gekommen und fand sich auch nicht mehr zurecht. Kriegsversehrt oder wie man sagt. Der hatte auch viel Mist hinter sich. Und ich weiß auch nicht, wo mir der Kopf steht.
Ich habe Stuckateur gelernt. Ein ganz toller Beruf. Hier in Dresden, Wilder Mann, gab es einen Lehrbauhof. Wir waren alles junge Kerle und Mädchen von 14 Jahren. Die haben zu uns gesagt: Kommt mal hierher, hier könnt ihr was erleben! Und da sind wir alle Mann hin und dort haben sie uns gezeigt, was man alles machen kann. Das war an sich recht nett. […]
Meine Eltern hatten dann eine Wohnung in Trachau bekommen. Mein Bruder hat Bau- und Möbeltischler gelernt und ich Stuckateur. Das war eine schöne Arbeit. […] Wir haben jede Menge Restauration gemacht. Wir in Dresden mussten ja erst wieder Fuß fassen. […] Wir hatten ja nichts, außer dem guten Willen. […] Ich habe in der Hofkirche gearbeitet. Und danach in der Kreuzkirche. […] Wir haben unsere Arbeit immer mit Herz und Seele gemacht. Uns ging es bei der ganzen Sache gut. Da waren wir alle eben noch richtig frei. Konnten gehen, wohin wir wollten. […] Ich muss immer erst zurück denken. […]
Memento
Die Neustadt ist Kult, Szene und vor allem eines: jung. Doch im Viertel leben auch Menschen mit Geschichten aus einer Zeit, da in Dresden-Neustadt an Szene noch nicht zu denken war. Wir stellen in der Serie „Memento“ immer sonnabends Persönlichkeiten und ihre Viertelgeschichten vor.
- Haben Sie auch eine spannende Viertel-Geschichte zu erzählen? Nehmen Sie mit uns Kontakt auf.
Ergreifend schön. Ich wünsche Hern Kempe alles Gute !
Die Artikel dieser Reihe sind immer wieder lesenswert. Danke :-)