Eilig haste ich durch den herbstlichen Regen und prompt pralle ich gegen zwei Damen, die urplötzlich stehen geblieben sind. Sie stehen und staunen, denn inzwischen ist es fast fertig. Das nigelnagelneue mexikanische Restaurant auf der Louisenstraße. Nur im Keller und rundherum wird noch gebaut. Der Gaststättenbetrieb läuft schon auf Hochtouren. Ich entschuldige mich, will weiter. Dann fällt mir auf, dass ich die Veränderungen der Neustadt schon gar nicht mehr wahrnehme. Das Staunen der Damen, es ist berechtigt.
Immerhin befinden wir uns an der wichtigsten Kreuzung der Neustadt. Der Krieg hatte hier große Lücken gerissen und aus der engen Ecke zwischen Alaun- und Louisenstraße hatte sich ein kleiner Platz entwickelt. Es gab Wege, Wiesen, Bäume und Parkbänke. Eine grüne Oase in der Mitte des Gründerzeitviertels.
In den frühen 90er Jahren war die Ecke der Treffpunkt schlechthin. Bei gutem Wetter der Startpunkt jeder zünftigen Kneipentour. Legendär, weil unwiederholbar, das Neustädter Oktoberfest 1993. Zu handgeschmierten Fettbemmen gab es Bluesmusik und billiges Bier.
Doch die Veränderung nahte und zwei Architekten ahnten Großes. Vergoldete dreieckige Platten ließen sie an jede Ecke der Kreuzung legen. Ein Symbol für den goldenen Boden. Und tatsächlich: Stück für Stück entwickelte sich die Ecke weiter. Erst entstand ein Seniorenheim mit integriertem Griechischem Restaurant. Dann wurde ein Schwalbennest gebaut mit Luxuswohnungen und Gogo-Tänzerinnen. Dann verwandelte sich ein grundanständiger Reifenhandel in eine verruchte Partyzone. Und nun ist auch die letzte grüne Ecke rot geworden. Reklame lockt, mexikanisch essen zu gehen.
Damit hat die wichtigste Kreuzung der Neustadt ihre Position wieder zurückerobert. Denn auch heute starten hier wieder zünftige Kneipentouren. Zumindest die beiden Damen wollen sich erst einmal eine gute Grundlage anfuttern, um dann in verschiedenen Bars das pralle Leben mit gut gefüllten Cocktail-Gläsern genießen zu können.
Anmerkung 2019
die wichtigste Kreuzung der Neustadt ist inzwischen etwas weiter im Osten. Aus dem Schwalbennest ist das Eckstein geworden, beim Griechen gibt es jetzt Vietnamesisches und statt Tapas Burger.